Verdrehte Tatsachen, erfundene Geschichten, abstruse Deutungen, Missachtung aller Experten: Rubikon dokumentiert, wie Behörden den wahrscheinlichen Mord an Oury Jalloh vertuschen.
von Susan Bonath
Im Mordfall Oury Jalloh hat das Oberlandesgericht (OLG) Sachsen-Anhalt am 23. Oktober 2019 den Antrag von Jallohs Bruder auf Klageerzwingung abgewiesen. Die Akte ist damit geschlossen. Sein Beschluss spiegelt erschütternd wider, mit welcher Dreistigkeit Landes- und Bundesbehörden seit fast anderthalb Jahrzehnten mutmaßliche Mörder in Uniform decken. Selbst Gutachten von Experten werden einfach ignoriert.
Tatort Polizeirevier Dessau
Oury Jalloh verbrannte am 7. Januar 2005 in einer Dessauer Polizeizelle in weniger als einer halben Stunde bis zur Unkenntlichkeit. Er war an Händen und Füßen rücklings auf einer feuerfest umhüllten Matratze angekettet. Noch vor der ersten Tatortuntersuchung hatten sich Polizei, Justiz und Politik auf ein Szenario festgelegt: Selbstmord.
Gegenteilige Beweismittel verschwanden damals in Serie, darunter das Polizeijournal, ein Fahrtenbuch, die Matratzenkaufbelege und vieles mehr. Eine Handfessel entsorgte der Hausmeister „auf Befehl von oben“ im Müll. Doch die Ermittler hatten ein Problem: Am Tatort ließ sich nichts finden, mit dem sich der Flüchtling aus Sierra Leone hätte anzünden können.
Drei Tage nach dem Todesfall präsentierte die Polizei schließlich ein verschmortes Feuerzeug. Angeblich sei es aus einer Asservatentüte mit Brandschutt gefallen. Siebeneinhalb Jahre unterließ man es, selbiges auf Spuren zu untersuchen. Das geschah erst auf Druck der Nebenklage vor dem Landgericht Magdeburg. Dort kam 2012 heraus: Das Feuerzeug kann nicht am Brandgeschehen beteiligt gewesen sein. Es war nie in der Zelle.
Die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh — gegründet 2005 von Freunden des Opfers und Mitgliedern der Black Community — begann selbst zu ermitteln. Zehntausende Euro Spenden sammelte sie mühsam zusammen, um selbst Gutachten in Auftrag zu geben. Sie trieb den langjährigen Chefermittler, den ehemaligen Leitenden Oberstaatsanwalt Folker Bittmann aus Dessau, vor sich her. In ihrem Auftrag fand 2016 der erste Brandversuch statt, der die Ursache des Feuers in den Fokus rückte. Acht Experten der Medizin, Brandforensik und Chemie wurden sich schließlich einig: Selbstmord war es wohl nicht.
Doch Sachsen-Anhalts Generalstaatsanwalt Jürgen Konrad entzog Bittmann daraufhin das Verfahren. Auch der Generalbundesanwalt lehnte es ab zu ermitteln. Die Staatsanwaltschaft Halle stellte es wenige Wochen später, im Oktober 2017, ein. Ein gutes Jahr später wies Konrad eine Beschwerde der Hinterbliebenen ab.
Nun scheiterte auch Jallohs Bruder, Mamadou Saliou Dialloh, mit seinem Antrag auf Klageerzwingung vor dem OLG — obwohl die Initiative zwischenzeitlich weitere Beweise geliefert hatte. So bescheinigt ein neues, von ihr finanziertes Gutachten, erstellt von Professor Boris Bodelle, Radiologe und Rechtsmediziner an der Frankfurter Universitätsklinik: Jalloh wurde vor seinem Tod schwer misshandelt. Das OLG deutete es einfach um.
Die Autorin dokumentiert im Folgenden, wie Staatsanwälte und Richter rechtsmedizinische und brandsachverständige Ergebnisse missachten und handfeste Indizien unter den Teppich kehren.
Die Mär von der Selbstverletzung
Für sein Gutachten wertete der Radiologe Bodelle computertomographische Bilder des Toten aus dem Jahr 2005 aus. Diese waren ihrerseits nur zustande gekommen, weil die Initiative schon damals eine zweite Obduktion finanziert hatte. Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft Dessau einen Antrag der Hinterbliebenen verweigert, die Leiche überhaupt röntgen zu lassen.
Bodelle kommt in seinem fachradiologischen Gutachten zu folgenden Schlüssen: Jallohs Nasenbein und die Nasenscheidewand waren gebrochen. Die Fraktur setze sich linksseitig über das Siebbein in die Hinterwand der Stirnhöhle fort, so der Mediziner. Er spricht von einem „Bruchsystem“ des vorderen Schädels.
Außerdem erkannte Bodelle Hinweise auf einen Bruch der sechsten und elften Rippe. Ersterer war für ihn nicht hundertprozentig zu diagnostizieren, weil die Bilddateien „nur eine eingeschränkte Aussage zulassen“. Im zweiten Fall ließen sich jedoch „Zeichen einer drei Zentimeter langen Fraktur nachweisen“, führte er aus.
Nur der Nasenbeinbruch ist bereits seit 2005 bekannt. Damals wollten die Mediziner allerdings nicht ausschließen, dass dieser nach Jallohs Tod, etwa beim Transport der Leiche, entstanden sein könnte. Der Staatsanwaltschaft genügte das, um dem nicht nachzugehen. Zumal Polizei und Staatsanwaltschaft schon 2005 die Geschichte in die Welt getragen hatten, Jalloh habe bei der Festnahme seinen Kopf gegen eine Tischplatte im Revier geschlagen und sich wohl selbst verletzt.
Bodelle wandte nun eine neue Methode an, um die Röntge-Bilder auszuwerten, die damals nicht zum Einsatz kam. Dabei kam er zu einem anderen Schluss: Das Bruchsystem vom Nasenbein bis zur Schädelvorderwand sowie der Bruch der elften Rippe rechtsseitig ließen „auf die Einwirkung äußerlicher Gewalt schließen“. So zeige das Weichteilgewebe um die Brüche herum Veränderungen wie Schwellungen und Einblutungen, die nach dem Tod nicht mehr hätten entstehen können. Daraus ergebe sich, „dass die Verletzungen vor Todeseintritt erfolgt sind“, so Bodelle.
Doch die Richter beim OLG ignorierten die Fachkompetenz des Rechtsmediziners. Ihre Begründung: Bodelle habe die Sektion nicht selbst durchgeführt, sondern nur Röntgen> Bild er aus dem Jahr 2005 ausgewertet. Sie wiederholten die nie bewiesene Behauptung der Selbstverletzung Jallohs vor seiner Fesselung auf der Pritsche in der gefliesten Schlichtzelle. Auch der damalige Revierarzt Andreas Blodau, der bis heute in Dessau praktiziert, entdeckte damals keine Verletzungen und erklärte Jalloh für gewahrsamstauglich.
Schließlich gibt das OLG Bodelles Gutachten völlig falsch wieder. Auf die Schädelbrüche geht es nicht weiter ein. Der von Bodelle diagnostizierte Bruch der elften Rippe stehe gar nicht fest und sei „nicht bewiesen“, so die Richter, obgleich sich das in der Expertise ganz anders liest. Dann fabulieren sie: Im Übrigen sei eine gebrochene Rippe, die „bei einer Auseinandersetzung mit der Polizei“ entstanden sein könne, „kein nachvollziehbares Motiv für einen Verdeckungsmord“.
Die Mär vom Selbstmord-Feuerzeug
Wie schon weiter oben angerissen, soll laut Version der Polizei drei Tage nach dem Brand ein verschmorter Feuerzeugrest aus einer Asservatentüte mit Brandschutt gefallen sein. Den habe man am Tatort wohl übersehen, weil er zwischen Leiche und Matratze gelegen habe, von wo der Schutt stammte.
Was fehlt, ist eine Dokumentation der Auffindesituation, also eine Routinearbeit für jeden Kriminalbeamten. Nachgewiesen ist nur ein Telefonanruf vom Nachmittag des 10. Januar 2005, bei dem Tatortermittler Uwe H. seinem Kollegen Reimar K. mitteilte, dass ein Feuerzeug aufgetaucht sei.
All das schluckte die Staatsanwaltschaft. Sie hielt es nicht einmal für nötig, das Utensil auf Spuren zu untersuchen. Erst auf massiven Druck der Nebenklage ordnete Claudia Methling, Vorsitzende Richterin am Magdeburger Landgericht (LG), im Frühjahr 2012 an, dies nachzuholen.
Das LG prozessierte damals übrigens gegen den Dienstgruppenleiter Andreas S. auf Anordnung des Bundesgerichtshofes (BGH), nachdem ein erster Prozess in Dessau nach zwei Jahren mit einem Freispruch für ihn und seinen Kollegen Hans-Ulrich M. ausgegangen war. Es ging dort aber nicht um die Brandursache, sondern lediglich darum, ob S. seine Aufsichtspflicht verletzt haben könne. Das LG verurteilte ihn Ende 2012 wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe von 10.800 Euro.
Was die Textilsachverständige des LKA Sachsen-Anhalt, Jana Schmechtig, bei ihrer Analyse herausfand, ist bedenklich: Im Feuerzeug waren zahlreiche Textilfasern eingeschmolzen. Jedoch waren sie allesamt nicht identisch mit dem Material in der Zelle, also dem Matratzenfüllstoff oder der Kleidung des Opfers. Das sei unmöglich, wenn es auf der Matratze und sogar unter der Leiche gelegen haben soll, meinen Experten dazu.
Dieses Ergebnis vom Juli 2012 aber juckt die sachsen-anhaltische Justiz nicht: Erst ignorierte es das Landgericht Magdeburg, dann die Staatsanwaltschaft Halle, die das Verfahren aus Dessau zugetragen bekommen und rasch eingestellt hatte, und am Ende auch Sachsen-Anhalts Generalstaatsanwalt Jürgen Konrad. Letzterer bestätigte im November 2018 die Einstellung.
In Konrads Prüfbericht, den er den Medien hat zukommen lassen, klammert er sich an alten, längst widerlegten Pseudoargumenten fest. So beharrte Generalstaatsanwalt Konrad einfach weiter darauf, dass die Polizei entweder dieses Feuerzeug bei Jalloh übersehen habe, obgleich die Beamten ihn mehrfach durchsucht und sogar die Hosentaschen nach außen gestülpt hatten — dazu später mehr. Oder ein Beamter müsse das Utensil verloren haben, und Jalloh habe dieses dann klammheimlich — mit eng an Wand und Boden gefesselten Händen wohlgemerkt — an sich genommen und versteckt.
Das OLG fabuliert unterdessen in seiner Klageabweisung, man wisse eben nicht, wie die fremden Fasern in und an den Feuerzeugrest gelangt seien. Das sei aber kein Beleg dafür, dass es nicht in der Zelle lag. Mehr noch: Oury Jalloh könne sogar ein weiteres Feuerzeug bei sich gehabt haben, das man nur nicht gefunden habe.
Die Mär vom selbstgelegten Superbrand
Nach der Feuerzeuganalyse finanzierte die Initiative erstmals selbst ein Gutachten, das sich mit der Ursache des Zellenbrandes befasste. Der beauftragte Sachverständige Maksim Smirnou simulierte 2013 das Brandgeschehen in einem Nachbau der originalen Schlichtzelle. Sein Fazit: Das Feuer hätte in diesem winzigen Raum mit einer feuerfest umhüllten Matratze und einem menschlichen Körper als einziger Brandlast ohne Brandbeschleuniger in so kurzer Zeit unter keinen Umständen derart wüten können.
Der Dessauer Chefermittler, Oberstaatsanwalt Bittmann, kam nicht drumherum, selbst einen ergebnisoffenen Versuch durchführen zu lassen. Bis 2016 zögerte er dies hinaus. Vier Brandexperten kamen dann zu einem ähnlichen Ergebnis wie Smirnou: Ohne Brandbeschleuniger sei das Tatort-Bild nicht erklärbar.
Zwei Rechtsmediziner erklärten zudem, Jalloh müsse beim Ausbruch des Feuers bereits bewusstlos gewesen sein. Das beweise sein nicht erhöhter Adrenalinspiegel. Zudem habe er kein Kohlenmonoxid und Blut sowie kaum Ruß in den Atemwegen gehabt. Der Tod müsse demnach binnen Sekunden durch ein explosionsartiges Entflammen vor seinem Gesicht und einem folgenden Inhalationsschock eingetreten sein.
Der Chemiker hielt auch eine postmortale Verbrennung Jallohs — etwa zum Zweck des Vertuschens weiterer Straftaten — für denkbar. So hätten die winzigen Rußpartikel auch bei der Sektion der Leiche in die Atemwege gelangen können. Dazu folgende Anmerkung der Autorin: Es ist noch nicht einmal sicher, ob Rußpartikel in den Atemwegen waren. So hatten bereits 2015 weitere Sachverständige herausgefunden, dass ein Foto der Speiseröhre in den Akten fälschlicherweise als Luftröhre betitelt worden war.
In seinem Vermerk vom 4. April 2017, worin Bittmann seinen Mordverdacht begründet hatte, würdigte er die Aussagen der Sachverständigen wie folgt:
Auf die Ergebnisse der Brandexperten, wonach ein Brandbeschleuniger zwingend nötig war, um ein derart drastisches Ergebnis zu erzielen, geht das OLG in seinem Beschluss nicht ein. Stattdessen erklärt es die Expertise des Sachverständigen Maksim Smirnou mal eben für unbrauchbar. So habe dieser einen anderen Matratzentyp verwendet als am Tatort vorhanden war. Allerdings: Welcher Matratzentyp genau am Tatort gewesen war, weiß auch das OLG nicht, denn die Kaufbelege für Matratzen hatte die Polizei rechtzeitig vernichtet.
Generalstaatsanwalt Jürgen Konrad erklärte die Sachverständigen quasi alle zu Quacksalbern. Er beharrte darauf, Jalloh müsse den Brand selbst gelegt haben. Das sei möglich, weil er die unbrennbare Hülle der Matratze aufgerissen haben könne, auch mit einer eng an die Wand gefesselten Hand, fabulierte er. Wohl habe er die Hülle dafür mit dem angeblich vorhandenen Feuerzeug weich geschmort.
Die Mär vom fehlenden Verdacht
Dass die Initiative und die Autorin unabhängig voneinander bei ihren eigenen Ermittlungen auf zwei Beamte namens Udo Sch. und Hans-Ulrich M. als mögliche Täter gestoßen sind, ist das Resultat gravierender Indizien. M. und Sch. hatten Jalloh festgenommen, mit Gewalt ins Polizeiauto gezerrt und im Gewahrsam auf die Matratze fixiert. Lange behaupteten beide, danach auf Streife, später in der Kantine, aber nicht mehr am Tatort gewesen zu sein. Das stellte sich im Verlauf der beiden Prozesse als Lüge heraus.
Zuerst berichtete die stellvertretende Dienstgruppenleiterin Beate H. von einer undokumentierten Zellenkontrolle, die sie über die Gegensprechanlage zum Gewahrsamstrakt wahrgenommen habe — und zwar gegen 11.30 Uhr, eine halbe Stunde vor dem Brandausbruch. Deshalb habe sie kurz darauf mit dem inzwischen verstorbenen Beamten Hartmut S. dort nachgesehen, aber angeblich niemanden mehr angetroffen. Alles sei ruhig gewesen, beteuerte H.
Kurz darauf sagte der Polizist Torsten B. im Zeugenstand aus, er habe „den Uli“ — gemeint war Hans-Ulrich M. — gegen 11.30 Uhr gesucht, um mit ihm in die Kantine mittagessen zu gehen. Angetroffen habe er ihn zusammen mit Udo Sch. in der Zelle. Jalloh habe ruhig und bewegungslos — aber angeblich wach und völlig unverletzt — dagelegen. Er sei beschäftigt, habe M. seinen Kollegen B. abgewimmelt und angegeben, man durchsuche den Gefesselten noch einmal. B. sagte aus, die Hosentaschen Jallohs seien nach außen gestülpt gewesen. Ein Feuerzeug konnte er dort also nicht versteckt haben. Das Landgericht Magdeburg dokumentierte diesen Hergang in seinem Urteil von 2012 wie folgt:
Dass Udo Sch. und Hans-Ulrich M. bezüglich ihres Alibis (Kantine) gelogen haben müssen, konstatierte zwar schon das Magdeburger Gericht. Nur belangt wurden beide dafür nie. Das OLG spann nun eine eigene Story zugunsten der Polizisten. B. könne sich auch geirrt haben. Vielleicht habe er mit M. zu einem viel früheren Zeitpunkt ein zweites Frühstück einnehmen wollen, führten die Richter sinngemäß aus. Und weil dies eben nicht auszuschließen sei und sich auch die Beamtin H. geirrt haben könne beim Wahrnehmen der „Schließgeräusche“, „deutet vieles darauf hin, dass um 11.30 Uhr keine Kontrolle stattgefunden hat“.
Die Mär vom fehlenden Motiv
Alle, die je mit den „Ermittlungen“ im Fall Jalloh beschäftigt waren, haben immer wieder auch die gravierendsten Gegenbeweise mit einer These abgebügelt: Die Polizeibeamten hätten gar kein Motiv gehabt. Ex-Oberstaatsanwalt Bittmann war der erste, der 2017 davon abwich, wenn vielleicht auch nur aus dem Grund, um später im Ruhestand nicht wegen Strafvereitelung im Amt belangt werden zu können.
In seinem Vermerk — mit dem er eigentlich den Generalbundesanwalt in Karlsruhe einschalten wollte, das Verfahren aber dann entzogen bekam — begründete er seinen Verdacht der vorsätzlichen Tötung und schweren Brandstiftung sogar ausführlich und nannte ein plausibles Motiv: Verdeckung weiterer Straftaten und Verhinderung neuer Ermittlungen zu zwei vorangegangenen ungeklärten Todesfällen im Revier.
Die anderen beiden Todesfälle, die Bittmann anspricht, wurden ebenfalls nie aufgeklärt.
Hans-Jürgen Rose wurde am Morgen des 8. Dezember 1997 aus dem Dessauer Gewahrsam entlassen. Wenig später fand man ihn unweit des Reviers mit schwersten inneren Verletzungen, darunter gebrochene Wirbel und Rippen, einem Lungen- und Nierenriss. Die Rechtsmediziner gaben an, das Verletzungsmuster auf dem Rücken des Toten wirke am ehesten wie von Polizeischlagstöcken verursacht. Die Ermittler analysierten an einer Säule des Reviers großflächig Spuren von Roses DNA, Kampfspuren außerhalb des Reviers gab es keine.
Mario Bichtemann lag am 29. Oktober 2002 schwer verletzt auf einem Gehweg. Anstatt einen Krankenwagen zu rufen, brachten ihn die Polizeibeamten aufs Revier und sperrten ihn in eine Zelle. Dort fand ihn tags darauf Dienstgruppenleiter Andreas Sch. tot. Der Arzt diagnostizierte einen Schädelbasisbruch, vier Rippenbrüche und zahlreiche Hämatome. Zuvor hatte ihn der Revierarzt Andreas Blodau für gewahrsamstauglich erklärt.
Im Fall Jalloh indes beharren Generalstaatsanwalt und Oberlandesrichter weiter auf einem angeblich fehlenden Motiv. So schreibt ersterer in seinem Prüfbericht zur endgültigen Einstellung des Verfahrens, es sei „nicht im Ansatz ein Motiv ersichtlich“. Zumal Jallohs Verhalten zwar renitent, aber „nicht derart herausstechend negativ“ gewesen sei, als „dass es ein Tötungsdelikt begründen könnte“.
Für das OLG war sogar eine „Betroffenheit“ diverser involvierter Polizeibeamter nach der Tat der ultimative Beweis dafür, dass es weder Absprachen noch irgendeinen Vorsatz gegeben haben könne. Die stellvertretende Dienstgruppenleiter Beate H. soll etwa „erschüttert“ gewesen sein, ihr Vorgesetzter Andreas Sch. gar „niedergeschlagen, apathisch, völlig durch den Wind beziehungsweise völlig aufgelöst“.
Die Mär von ordentlichen Ermittlungen
Seitens der Justiz und Politik wird immerfort behauptet, es sei jahrelang ordentlich ermittelt und alles restlos ausermittelt worden. Anhaltspunkte für eine Beteiligung Dritter habe man nicht gefunden. Das Gegenteil davon dürfte bereits widerlegt sein. Der ehemalige Dessauer Oberstaatsanwalt Bittmann hielt noch einmal schwarz auf weiß in einem Vermerk fest: Keines der Brandgutachten vor dem Versuch im August 2016 habe sich mit der Brandursache befasst
Es ist offenkundig: Die Justiz in Sachsen-Anhalt und sogar auf Bundesebene weigert sich seit 2005, objektiven Indizien nachzugehen. Es ist geradezu dreist, wie Richter, Staatsanwälte und auch Politiker im Landtag als Laien gestandene Experten der Brandforensik, Chemie und Rechtsmedizin praktisch zu Dummköpfen erklären und ihre Expertisen auf abenteuerliche Weise umdeuten. Der Rechtsmediziner Gerold Kauert — einer der von der Staatsanwaltschaft beauftragten Gutachter — hatte sich sogar entgegen aller Vorgaben seiner Auftraggeber an die Öffentlichkeit gewagt. So stellte er 2017 im ARD-Magazin Monitor klar, dass die Selbstmordthese laut Sachverständigengremium „nicht zu halten“ sei.
Fazit: Die offenkundig mit Absicht ungeklärt gebliebenen Todesfälle im Dessauer Polizeirevier Jalloh, Bichtemann und Rose bescheinigen zahlreichen staatlichen Behörden den gemeinschaftlichen Schutz mutmaßlicher Mörder in Uniform — just Strafvereitelung im Amt.
Susan Bonath, geboren in der DDR, arbeitet seit 2004 als freie Journalistin und berichtet seit 2010 für die junge Welt. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem Kapitalismuskritik, Arbeit und Soziales. Sie lebt in Sachsen-Anhalt.
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von Susan Bonath
Im Mordfall Oury Jalloh hat das Oberlandesgericht (OLG) Sachsen-Anhalt am 23. Oktober 2019 den Antrag von Jallohs Bruder auf Klageerzwingung abgewiesen. Die Akte ist damit geschlossen. Sein Beschluss spiegelt erschütternd wider, mit welcher Dreistigkeit Landes- und Bundesbehörden seit fast anderthalb Jahrzehnten mutmaßliche Mörder in Uniform decken. Selbst Gutachten von Experten werden einfach ignoriert.
Tatort Polizeirevier Dessau
Oury Jalloh verbrannte am 7. Januar 2005 in einer Dessauer Polizeizelle in weniger als einer halben Stunde bis zur Unkenntlichkeit. Er war an Händen und Füßen rücklings auf einer feuerfest umhüllten Matratze angekettet. Noch vor der ersten Tatortuntersuchung hatten sich Polizei, Justiz und Politik auf ein Szenario festgelegt: Selbstmord.
Gegenteilige Beweismittel verschwanden damals in Serie, darunter das Polizeijournal, ein Fahrtenbuch, die Matratzenkaufbelege und vieles mehr. Eine Handfessel entsorgte der Hausmeister „auf Befehl von oben“ im Müll. Doch die Ermittler hatten ein Problem: Am Tatort ließ sich nichts finden, mit dem sich der Flüchtling aus Sierra Leone hätte anzünden können.
Drei Tage nach dem Todesfall präsentierte die Polizei schließlich ein verschmortes Feuerzeug. Angeblich sei es aus einer Asservatentüte mit Brandschutt gefallen. Siebeneinhalb Jahre unterließ man es, selbiges auf Spuren zu untersuchen. Das geschah erst auf Druck der Nebenklage vor dem Landgericht Magdeburg. Dort kam 2012 heraus: Das Feuerzeug kann nicht am Brandgeschehen beteiligt gewesen sein. Es war nie in der Zelle.
Die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh — gegründet 2005 von Freunden des Opfers und Mitgliedern der Black Community — begann selbst zu ermitteln. Zehntausende Euro Spenden sammelte sie mühsam zusammen, um selbst Gutachten in Auftrag zu geben. Sie trieb den langjährigen Chefermittler, den ehemaligen Leitenden Oberstaatsanwalt Folker Bittmann aus Dessau, vor sich her. In ihrem Auftrag fand 2016 der erste Brandversuch statt, der die Ursache des Feuers in den Fokus rückte. Acht Experten der Medizin, Brandforensik und Chemie wurden sich schließlich einig: Selbstmord war es wohl nicht.
Doch Sachsen-Anhalts Generalstaatsanwalt Jürgen Konrad entzog Bittmann daraufhin das Verfahren. Auch der Generalbundesanwalt lehnte es ab zu ermitteln. Die Staatsanwaltschaft Halle stellte es wenige Wochen später, im Oktober 2017, ein. Ein gutes Jahr später wies Konrad eine Beschwerde der Hinterbliebenen ab.
Nun scheiterte auch Jallohs Bruder, Mamadou Saliou Dialloh, mit seinem Antrag auf Klageerzwingung vor dem OLG — obwohl die Initiative zwischenzeitlich weitere Beweise geliefert hatte. So bescheinigt ein neues, von ihr finanziertes Gutachten, erstellt von Professor Boris Bodelle, Radiologe und Rechtsmediziner an der Frankfurter Universitätsklinik: Jalloh wurde vor seinem Tod schwer misshandelt. Das OLG deutete es einfach um.
Die Autorin dokumentiert im Folgenden, wie Staatsanwälte und Richter rechtsmedizinische und brandsachverständige Ergebnisse missachten und handfeste Indizien unter den Teppich kehren.
Die Mär von der Selbstverletzung
Für sein Gutachten wertete der Radiologe Bodelle computertomographische Bilder des Toten aus dem Jahr 2005 aus. Diese waren ihrerseits nur zustande gekommen, weil die Initiative schon damals eine zweite Obduktion finanziert hatte. Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft Dessau einen Antrag der Hinterbliebenen verweigert, die Leiche überhaupt röntgen zu lassen.
Bodelle kommt in seinem fachradiologischen Gutachten zu folgenden Schlüssen: Jallohs Nasenbein und die Nasenscheidewand waren gebrochen. Die Fraktur setze sich linksseitig über das Siebbein in die Hinterwand der Stirnhöhle fort, so der Mediziner. Er spricht von einem „Bruchsystem“ des vorderen Schädels.
Außerdem erkannte Bodelle Hinweise auf einen Bruch der sechsten und elften Rippe. Ersterer war für ihn nicht hundertprozentig zu diagnostizieren, weil die Bilddateien „nur eine eingeschränkte Aussage zulassen“. Im zweiten Fall ließen sich jedoch „Zeichen einer drei Zentimeter langen Fraktur nachweisen“, führte er aus.
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Bodelle wandte nun eine neue Methode an, um die Röntge-Bilder auszuwerten, die damals nicht zum Einsatz kam. Dabei kam er zu einem anderen Schluss: Das Bruchsystem vom Nasenbein bis zur Schädelvorderwand sowie der Bruch der elften Rippe rechtsseitig ließen „auf die Einwirkung äußerlicher Gewalt schließen“. So zeige das Weichteilgewebe um die Brüche herum Veränderungen wie Schwellungen und Einblutungen, die nach dem Tod nicht mehr hätten entstehen können. Daraus ergebe sich, „dass die Verletzungen vor Todeseintritt erfolgt sind“, so Bodelle.
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Doch die Richter beim OLG ignorierten die Fachkompetenz des Rechtsmediziners. Ihre Begründung: Bodelle habe die Sektion nicht selbst durchgeführt, sondern nur Röntgen> Bild er aus dem Jahr 2005 ausgewertet. Sie wiederholten die nie bewiesene Behauptung der Selbstverletzung Jallohs vor seiner Fesselung auf der Pritsche in der gefliesten Schlichtzelle. Auch der damalige Revierarzt Andreas Blodau, der bis heute in Dessau praktiziert, entdeckte damals keine Verletzungen und erklärte Jalloh für gewahrsamstauglich.
Schließlich gibt das OLG Bodelles Gutachten völlig falsch wieder. Auf die Schädelbrüche geht es nicht weiter ein. Der von Bodelle diagnostizierte Bruch der elften Rippe stehe gar nicht fest und sei „nicht bewiesen“, so die Richter, obgleich sich das in der Expertise ganz anders liest. Dann fabulieren sie: Im Übrigen sei eine gebrochene Rippe, die „bei einer Auseinandersetzung mit der Polizei“ entstanden sein könne, „kein nachvollziehbares Motiv für einen Verdeckungsmord“.
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Die Mär vom Selbstmord-Feuerzeug
Wie schon weiter oben angerissen, soll laut Version der Polizei drei Tage nach dem Brand ein verschmorter Feuerzeugrest aus einer Asservatentüte mit Brandschutt gefallen sein. Den habe man am Tatort wohl übersehen, weil er zwischen Leiche und Matratze gelegen habe, von wo der Schutt stammte.
Was fehlt, ist eine Dokumentation der Auffindesituation, also eine Routinearbeit für jeden Kriminalbeamten. Nachgewiesen ist nur ein Telefonanruf vom Nachmittag des 10. Januar 2005, bei dem Tatortermittler Uwe H. seinem Kollegen Reimar K. mitteilte, dass ein Feuerzeug aufgetaucht sei.
All das schluckte die Staatsanwaltschaft. Sie hielt es nicht einmal für nötig, das Utensil auf Spuren zu untersuchen. Erst auf massiven Druck der Nebenklage ordnete Claudia Methling, Vorsitzende Richterin am Magdeburger Landgericht (LG), im Frühjahr 2012 an, dies nachzuholen.
Das LG prozessierte damals übrigens gegen den Dienstgruppenleiter Andreas S. auf Anordnung des Bundesgerichtshofes (BGH), nachdem ein erster Prozess in Dessau nach zwei Jahren mit einem Freispruch für ihn und seinen Kollegen Hans-Ulrich M. ausgegangen war. Es ging dort aber nicht um die Brandursache, sondern lediglich darum, ob S. seine Aufsichtspflicht verletzt haben könne. Das LG verurteilte ihn Ende 2012 wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe von 10.800 Euro.
Was die Textilsachverständige des LKA Sachsen-Anhalt, Jana Schmechtig, bei ihrer Analyse herausfand, ist bedenklich: Im Feuerzeug waren zahlreiche Textilfasern eingeschmolzen. Jedoch waren sie allesamt nicht identisch mit dem Material in der Zelle, also dem Matratzenfüllstoff oder der Kleidung des Opfers. Das sei unmöglich, wenn es auf der Matratze und sogar unter der Leiche gelegen haben soll, meinen Experten dazu.
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Dieses Ergebnis vom Juli 2012 aber juckt die sachsen-anhaltische Justiz nicht: Erst ignorierte es das Landgericht Magdeburg, dann die Staatsanwaltschaft Halle, die das Verfahren aus Dessau zugetragen bekommen und rasch eingestellt hatte, und am Ende auch Sachsen-Anhalts Generalstaatsanwalt Jürgen Konrad. Letzterer bestätigte im November 2018 die Einstellung.
In Konrads Prüfbericht, den er den Medien hat zukommen lassen, klammert er sich an alten, längst widerlegten Pseudoargumenten fest. So beharrte Generalstaatsanwalt Konrad einfach weiter darauf, dass die Polizei entweder dieses Feuerzeug bei Jalloh übersehen habe, obgleich die Beamten ihn mehrfach durchsucht und sogar die Hosentaschen nach außen gestülpt hatten — dazu später mehr. Oder ein Beamter müsse das Utensil verloren haben, und Jalloh habe dieses dann klammheimlich — mit eng an Wand und Boden gefesselten Händen wohlgemerkt — an sich genommen und versteckt.
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Das OLG fabuliert unterdessen in seiner Klageabweisung, man wisse eben nicht, wie die fremden Fasern in und an den Feuerzeugrest gelangt seien. Das sei aber kein Beleg dafür, dass es nicht in der Zelle lag. Mehr noch: Oury Jalloh könne sogar ein weiteres Feuerzeug bei sich gehabt haben, das man nur nicht gefunden habe.
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Die Mär vom selbstgelegten Superbrand
Nach der Feuerzeuganalyse finanzierte die Initiative erstmals selbst ein Gutachten, das sich mit der Ursache des Zellenbrandes befasste. Der beauftragte Sachverständige Maksim Smirnou simulierte 2013 das Brandgeschehen in einem Nachbau der originalen Schlichtzelle. Sein Fazit: Das Feuer hätte in diesem winzigen Raum mit einer feuerfest umhüllten Matratze und einem menschlichen Körper als einziger Brandlast ohne Brandbeschleuniger in so kurzer Zeit unter keinen Umständen derart wüten können.
Der Dessauer Chefermittler, Oberstaatsanwalt Bittmann, kam nicht drumherum, selbst einen ergebnisoffenen Versuch durchführen zu lassen. Bis 2016 zögerte er dies hinaus. Vier Brandexperten kamen dann zu einem ähnlichen Ergebnis wie Smirnou: Ohne Brandbeschleuniger sei das Tatort-Bild nicht erklärbar.
Zwei Rechtsmediziner erklärten zudem, Jalloh müsse beim Ausbruch des Feuers bereits bewusstlos gewesen sein. Das beweise sein nicht erhöhter Adrenalinspiegel. Zudem habe er kein Kohlenmonoxid und Blut sowie kaum Ruß in den Atemwegen gehabt. Der Tod müsse demnach binnen Sekunden durch ein explosionsartiges Entflammen vor seinem Gesicht und einem folgenden Inhalationsschock eingetreten sein.
Der Chemiker hielt auch eine postmortale Verbrennung Jallohs — etwa zum Zweck des Vertuschens weiterer Straftaten — für denkbar. So hätten die winzigen Rußpartikel auch bei der Sektion der Leiche in die Atemwege gelangen können. Dazu folgende Anmerkung der Autorin: Es ist noch nicht einmal sicher, ob Rußpartikel in den Atemwegen waren. So hatten bereits 2015 weitere Sachverständige herausgefunden, dass ein Foto der Speiseröhre in den Akten fälschlicherweise als Luftröhre betitelt worden war.
In seinem Vermerk vom 4. April 2017, worin Bittmann seinen Mordverdacht begründet hatte, würdigte er die Aussagen der Sachverständigen wie folgt:
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Auf die Ergebnisse der Brandexperten, wonach ein Brandbeschleuniger zwingend nötig war, um ein derart drastisches Ergebnis zu erzielen, geht das OLG in seinem Beschluss nicht ein. Stattdessen erklärt es die Expertise des Sachverständigen Maksim Smirnou mal eben für unbrauchbar. So habe dieser einen anderen Matratzentyp verwendet als am Tatort vorhanden war. Allerdings: Welcher Matratzentyp genau am Tatort gewesen war, weiß auch das OLG nicht, denn die Kaufbelege für Matratzen hatte die Polizei rechtzeitig vernichtet.
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Generalstaatsanwalt Jürgen Konrad erklärte die Sachverständigen quasi alle zu Quacksalbern. Er beharrte darauf, Jalloh müsse den Brand selbst gelegt haben. Das sei möglich, weil er die unbrennbare Hülle der Matratze aufgerissen haben könne, auch mit einer eng an die Wand gefesselten Hand, fabulierte er. Wohl habe er die Hülle dafür mit dem angeblich vorhandenen Feuerzeug weich geschmort.
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Die Mär vom fehlenden Verdacht
Dass die Initiative und die Autorin unabhängig voneinander bei ihren eigenen Ermittlungen auf zwei Beamte namens Udo Sch. und Hans-Ulrich M. als mögliche Täter gestoßen sind, ist das Resultat gravierender Indizien. M. und Sch. hatten Jalloh festgenommen, mit Gewalt ins Polizeiauto gezerrt und im Gewahrsam auf die Matratze fixiert. Lange behaupteten beide, danach auf Streife, später in der Kantine, aber nicht mehr am Tatort gewesen zu sein. Das stellte sich im Verlauf der beiden Prozesse als Lüge heraus.
Zuerst berichtete die stellvertretende Dienstgruppenleiterin Beate H. von einer undokumentierten Zellenkontrolle, die sie über die Gegensprechanlage zum Gewahrsamstrakt wahrgenommen habe — und zwar gegen 11.30 Uhr, eine halbe Stunde vor dem Brandausbruch. Deshalb habe sie kurz darauf mit dem inzwischen verstorbenen Beamten Hartmut S. dort nachgesehen, aber angeblich niemanden mehr angetroffen. Alles sei ruhig gewesen, beteuerte H.
Kurz darauf sagte der Polizist Torsten B. im Zeugenstand aus, er habe „den Uli“ — gemeint war Hans-Ulrich M. — gegen 11.30 Uhr gesucht, um mit ihm in die Kantine mittagessen zu gehen. Angetroffen habe er ihn zusammen mit Udo Sch. in der Zelle. Jalloh habe ruhig und bewegungslos — aber angeblich wach und völlig unverletzt — dagelegen. Er sei beschäftigt, habe M. seinen Kollegen B. abgewimmelt und angegeben, man durchsuche den Gefesselten noch einmal. B. sagte aus, die Hosentaschen Jallohs seien nach außen gestülpt gewesen. Ein Feuerzeug konnte er dort also nicht versteckt haben. Das Landgericht Magdeburg dokumentierte diesen Hergang in seinem Urteil von 2012 wie folgt:
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Dass Udo Sch. und Hans-Ulrich M. bezüglich ihres Alibis (Kantine) gelogen haben müssen, konstatierte zwar schon das Magdeburger Gericht. Nur belangt wurden beide dafür nie. Das OLG spann nun eine eigene Story zugunsten der Polizisten. B. könne sich auch geirrt haben. Vielleicht habe er mit M. zu einem viel früheren Zeitpunkt ein zweites Frühstück einnehmen wollen, führten die Richter sinngemäß aus. Und weil dies eben nicht auszuschließen sei und sich auch die Beamtin H. geirrt haben könne beim Wahrnehmen der „Schließgeräusche“, „deutet vieles darauf hin, dass um 11.30 Uhr keine Kontrolle stattgefunden hat“.
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Die Mär vom fehlenden Motiv
Alle, die je mit den „Ermittlungen“ im Fall Jalloh beschäftigt waren, haben immer wieder auch die gravierendsten Gegenbeweise mit einer These abgebügelt: Die Polizeibeamten hätten gar kein Motiv gehabt. Ex-Oberstaatsanwalt Bittmann war der erste, der 2017 davon abwich, wenn vielleicht auch nur aus dem Grund, um später im Ruhestand nicht wegen Strafvereitelung im Amt belangt werden zu können.
In seinem Vermerk — mit dem er eigentlich den Generalbundesanwalt in Karlsruhe einschalten wollte, das Verfahren aber dann entzogen bekam — begründete er seinen Verdacht der vorsätzlichen Tötung und schweren Brandstiftung sogar ausführlich und nannte ein plausibles Motiv: Verdeckung weiterer Straftaten und Verhinderung neuer Ermittlungen zu zwei vorangegangenen ungeklärten Todesfällen im Revier.
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Die anderen beiden Todesfälle, die Bittmann anspricht, wurden ebenfalls nie aufgeklärt.
Hans-Jürgen Rose wurde am Morgen des 8. Dezember 1997 aus dem Dessauer Gewahrsam entlassen. Wenig später fand man ihn unweit des Reviers mit schwersten inneren Verletzungen, darunter gebrochene Wirbel und Rippen, einem Lungen- und Nierenriss. Die Rechtsmediziner gaben an, das Verletzungsmuster auf dem Rücken des Toten wirke am ehesten wie von Polizeischlagstöcken verursacht. Die Ermittler analysierten an einer Säule des Reviers großflächig Spuren von Roses DNA, Kampfspuren außerhalb des Reviers gab es keine.
Mario Bichtemann lag am 29. Oktober 2002 schwer verletzt auf einem Gehweg. Anstatt einen Krankenwagen zu rufen, brachten ihn die Polizeibeamten aufs Revier und sperrten ihn in eine Zelle. Dort fand ihn tags darauf Dienstgruppenleiter Andreas Sch. tot. Der Arzt diagnostizierte einen Schädelbasisbruch, vier Rippenbrüche und zahlreiche Hämatome. Zuvor hatte ihn der Revierarzt Andreas Blodau für gewahrsamstauglich erklärt.
Im Fall Jalloh indes beharren Generalstaatsanwalt und Oberlandesrichter weiter auf einem angeblich fehlenden Motiv. So schreibt ersterer in seinem Prüfbericht zur endgültigen Einstellung des Verfahrens, es sei „nicht im Ansatz ein Motiv ersichtlich“. Zumal Jallohs Verhalten zwar renitent, aber „nicht derart herausstechend negativ“ gewesen sei, als „dass es ein Tötungsdelikt begründen könnte“.
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Für das OLG war sogar eine „Betroffenheit“ diverser involvierter Polizeibeamter nach der Tat der ultimative Beweis dafür, dass es weder Absprachen noch irgendeinen Vorsatz gegeben haben könne. Die stellvertretende Dienstgruppenleiter Beate H. soll etwa „erschüttert“ gewesen sein, ihr Vorgesetzter Andreas Sch. gar „niedergeschlagen, apathisch, völlig durch den Wind beziehungsweise völlig aufgelöst“.
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Die Mär von ordentlichen Ermittlungen
Seitens der Justiz und Politik wird immerfort behauptet, es sei jahrelang ordentlich ermittelt und alles restlos ausermittelt worden. Anhaltspunkte für eine Beteiligung Dritter habe man nicht gefunden. Das Gegenteil davon dürfte bereits widerlegt sein. Der ehemalige Dessauer Oberstaatsanwalt Bittmann hielt noch einmal schwarz auf weiß in einem Vermerk fest: Keines der Brandgutachten vor dem Versuch im August 2016 habe sich mit der Brandursache befasst
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Es ist offenkundig: Die Justiz in Sachsen-Anhalt und sogar auf Bundesebene weigert sich seit 2005, objektiven Indizien nachzugehen. Es ist geradezu dreist, wie Richter, Staatsanwälte und auch Politiker im Landtag als Laien gestandene Experten der Brandforensik, Chemie und Rechtsmedizin praktisch zu Dummköpfen erklären und ihre Expertisen auf abenteuerliche Weise umdeuten. Der Rechtsmediziner Gerold Kauert — einer der von der Staatsanwaltschaft beauftragten Gutachter — hatte sich sogar entgegen aller Vorgaben seiner Auftraggeber an die Öffentlichkeit gewagt. So stellte er 2017 im ARD-Magazin Monitor klar, dass die Selbstmordthese laut Sachverständigengremium „nicht zu halten“ sei.
Fazit: Die offenkundig mit Absicht ungeklärt gebliebenen Todesfälle im Dessauer Polizeirevier Jalloh, Bichtemann und Rose bescheinigen zahlreichen staatlichen Behörden den gemeinschaftlichen Schutz mutmaßlicher Mörder in Uniform — just Strafvereitelung im Amt.
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Der Beitrag erschien bei Rubicon.news
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