Thema:
Merkeldämmerung
Kommentar zur Flüchtlingskrise
Jetzt wird an Merkels Stuhl gesägt
09.11.2015, 16:29 Uhr | t-online.de
So was können wir Deutschen gar nicht leiden: Eine als schockierend groß empfundene Zahl von Menschen flieht in unser Land; sie müssten aufgenommen, eingegliedert und integriert werden - alles schön geordnet und der Reihe nach. Doch das funktioniert nicht.
Denn dazu braucht es ein klares, abgestimmtes Vorgehen – so versucht es Angela Merkel auch seit Beginn der Krise. Doch die Bundesregierung driftet auseinander wie Jahrmarktsbesucher in einem Kettenkarussell. Merkels Regierung droht ein Opfer dieser Zentrifugalkräfte zu werden.
Was passiert da gerade?
Das Grundproblem: Das Asylrecht kennt aus gutem Grund keine Obergrenze. Wie auch? Verfolgte sind nicht weniger verfolgt, nur weil es viele sind.
Was aber, wenn aufgrund gewaltiger Krisen immer mehr Menschen ihr Recht auf Asyl in Anspruch nehmen müssen? Was, wenn es nicht mehr eine Million Flüchtlinge sind, die nach Deutschland wollen, sondern drei oder vier Millionen? Schaffen wir das dann auch noch? Das fragen nicht nur CSU-Chef Horst Seehofer und konservative Kreise der Union. Doch während die Bevölkerung anpackt, wecken sie immer wieder gezielt Zweifel an der Machbarkeit.
Das fällt ihnen leicht, denn noch hat niemand Antworten parat. Auch das Grundgesetz nicht, das in Artikel 16 unbegrenztes Asyl gewährt, wenn Menschen
- durch staatliche Stellen verfolgt werden
- deswegen (direkt) nach Deutschland fliehen
- deswegen hier einen Asylantrag stellen.
Merkels Gegner in der Union behaupten: Man muss eine Obergrenze einziehen, Asylrecht hin oder her. Diesen Gedanken kann man verstehen. Doch dann müsste das Asylrecht geändert werden - und damit das Grundgesetz. Dafür brauchte man eine Zweidrittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat. Das würde wohl spätestens an den Grünen scheitern, die im Bundesrat eine gewichtige Stimme besitzen.
Mit anderen Worten: Merkels Kurs des ruhigen Vorangehens im Inland und der politischen Initiativen gegenüber der EU und den Herkunftsländern der Flüchtlinge, scheint derzeit tatsächlich alternativlos. Denn: Kommen, da sind sich alle einig, würden die Flüchtlinge so oder so - notfalls über die grüne Grenze.
Das wollen Teile der Union aber nicht einsehen und drehen derzeit hohl, um mit politischen Tricks die Grenzen dicht machen zu können.
Beispiel "sichere Herkunftsländer":
Immer mehr Fluchtländer sollen mal eben zu "sicheren Herkunftsländern" erklärt werden, um Flüchtlinge von dort pauschal abweisen zu können. Die Türkei, das Kosovo oder gar das von einem fast 40-jährigen Krieg zerrissene Afghanistan sollen auf einmal sicher sein - ein grausamer Witz.
Beispiel subsidiärer Schutz:
Der gilt, wenn Menschen zwar nicht persönlich verfolgt sind, ihnen aber trotzdem in der Heimat Folter, Tod oder anderer Schaden für Leben und Gesundheit drohen. Die Zeit in Deutschland wird in diesem Fall als vorübergehend angesehen, es gibt keine Integrationshilfen, die Familie darf nicht nachkommen, der Status wird nur für ein Jahr gewährt und dann überprüft.
Die Attacke von Innenminister Thomas de Maizière, den subsidiären Schutz auf Syrer anzuwenden, mag bedenkenswert sein. Zwar gibt es in Syrien keine sicheren Gebiete mehr. Wen der IS oder andere Milizen nicht umbringen, dem droht die Mörderbande von Baschar al-Assad, die in den vergangenen Jahren bis zu 70.000 Menschen hat verschwinden lassen. Die Flucht im Inland ist somit eine Illusion - zumindest derzeit.
Das Übel liegt hier an einer anderen Stelle: Wenige Stunden nach einem vom Volk heiß ersehnten Asylkompromiss kocht der Innenminister sein eigenes Süppchen und präsentiert völlig neue Anweisungen. Die hat er mit niemand, schon gar nicht mit dem Kanzleramt abgesprochen. Unterstützung findet er nicht mehr nur in dem mächtigen Finanzminister Wolfgang Schäuble, sondern mittlerweile auch beim Präsidium der CDU und - natürlich - bei der CSU. Die Flüchtlingskrise ist endgültig zur Regierungskrise geworden.
Merkels menschlicher Vorstoß, Menschen in Not unbegrenzt aufzunehmen und die Probleme, die daraus entstehen, danach zu regeln, ist mit den alten Unionsparteien nicht zu machen. Das ist die Botschaft dieser Tage. De Maizière, Seehofer und Schäuble waren in dieser Frage schon immer eher die Vertreter der Furchtsamen und der Pessimisten, als die der Anpacker. Gut möglich, dass Merkels Kanzlerschaft daran zerbricht.
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Quelle: t-online.de
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