Thema:
demokratische Polizeistaaten von Europa?
ein Podcast von WDR 5
Feature - Bildung von EU-Polizeikräften:
Die EU hat im vergangenen Jahrzehnt fast unbemerkt Kapazitäten zur Aufstandsbekämpfung aufgebaut. Ursprünglich gedacht, um in Drittländern stabilisierend zu wirken, scheinen sich die Aufgaben hin
zu Einsätzen im Inneren zu verschieben. Mögliche Ziele: Demos, Streiks, Proteste.
AutorIn: Aureliana Sorrento © WDR 2015
Den Podcast können Sie hier abspielen:
Italien ist im Dienst. Seit 2005 befindet sich in der Armando Chinotto Kaserne in Vicenza das "Center of exellence for stability police units", auf Deutsch "Kompetenzzentrum für Stabilisierungspolizisten, abgekürzt: CoEspu. Carabinieri-General Paolo Nardone ist der Leiter der
Ausbildungsstätte. "Die Idee für das Zentrum", erzählt er, "geht auf den G8-Gipfel in Sea Island in den Vereinigten Staaten zurück. Da sah man die Notwendigkeit, polizeiliche Einsatzkräfte für Peace Support Operations, Friedensunterstützungsmissionen, global aufzustocken. Man steckte sich das Ziel, 75.000 Peacekeeper auszubilden, von denen zehn Prozent, also 7.500, robuste Polizeikräfte sein sollten, wie das Gendarmerien sind. Diese Aufgabe hat Italien übernommen, und Italien hat sie den Carabinieri anvertraut, die wiederum diese Kaserne als den dazu am besten geeigneten Standort ausgemacht hat."
"Zur Kontrolle von Demonstrationen"
Die Carabinieri sind die italienische Gendarmerie, deren Panzer im Juli 2001 in Genua während des G8-Gipfels zur "Kontrolle der Demonstrationen" zum Einsatz kamen. Am 20. Juli tötete dort ein
Carabiniere den 20-jährigen Demonstranten Carlo Giuliani durch einen Kopfschuss. Im Blick auf die Gendarmerie erläutert der Politikwissenschaftler Christian Kreuder-Sonnen: "Als übergeordneter
Begriff bezeichnet sie Polizeieinheiten mit paramilitärischen Fähigkeiten, hat eine hybride Struktur zwischen Polizei und Militär, so dass diese Einheiten sowohl militärische als auch polizeiliche
Fähigkeiten vereinen und sie flexibel gewichten können. Das heißt: Sie haben auf der einen Seiten robuste Selbstverteidigungsfähigkeiten, sie sind darüber hinaus in der Lage, sich flexibel zu bewegen auch in einer Konfliktregion, weil sie auf gepanzerte Fahrzeuge, bewaffnete Fahrzeuge
zurückgreifen können." Eine Spezialität dieser Einheiten sei es, so Kreuder-Sonnen weiter, "dass sie besonders geschult sind im Umgang mit gewaltsamen Aufständen."
Stabilisierungspolizisten
Auf der Homepage des CoEspu kann man die Fähigkeiten zur Aufstandsbekämpfung als Ausbildungsziele des Kompetenzzentrums studieren. "Stabilisierungspolizisten" müssten in der Lage sein, heißt
es dort, Störungen der öffentlichen Ordnung zu bewältigen, sensible Infrastruktur zu überwachen, Prominente zu eskortieren, Terrorismus und Aufstände zu bekämpfen, Barrikaden zu entfernen und lokale Polizisten in der Technik der Aufstandsbekämpfung auszubilden.
Seit 2009 leitet das CoEspu im Auftrag der EU ein umfangreiches Trainingsprogramm für Polizeikräfte. Bei diesem "European Union Police Services Training" müssen Polizisten und Gendarmen aus mehreren
EU-Ländern gemeinsam trainieren und sogenannte "best practices", also erfogreiche Methoden, entwickeln. Die dritte Trainingssession erfolgte 2010 unter der Ägide der deutschen Bundespolizei in einer Bundeswehr-Kaserne in Lehnin bei Potsdam.
Besuch beim Polizeitraining
Eine parlamentarische Delegation besuchte das Training. Matthias Monroy, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Linke-Abgeordneten Andrej Hunko, gehörte dazu: "Dort wurden Missionslagen geübt, nach einem Bürgerkrieg, der militärisch befriedet wurde", berichtet er. "Es wurde angenommen, dass die Militärs die Lage in Ordnung gebracht haben, danach muss die öffentliche Ordnung gesichert werden. Und in diesem Szenario agierten dann die Polizeien und Gendarmerien zusammen."
"Geübt wurden beispielsweise Demonstrationen der Bevölkerung, Flüchtlingstrecks, die angegriffen werden, aber auch hoher Staatsbesuch", so der Linke-Mitarbeiter weiter. "Was auch geübt wurde,
sind Situationen wie große Sportereignisse. Jetzt muss man sich überlegen: In einem Post-Bürgerkrieg-Szenario wird kaum ein großes Sportereignis wie eine Fußballmeisterschaft oder eine Olympiade
stattfinden. Das heißt, es zeigt sich eigentlich ganz gut, dass diese Übungen dafür da sind, größere Demonstrationslagen in den Griff zu bekommen bis hin zu Aufständen in Krisenregionen oder Kriegsgebieten."
European Gendarmerie Force
In der Armando-Chinotto-Kaserne, in der das CoESPU seinen Sitz hat, befindet sich auch das Hauptquartier der "European Gendarmerie Force", abgekürzt: Eurogendfor – die europäische "Stabilisierungspolizei" par excellence. Das Hauptquartier ist aber nur eine Art Planungs- und
Leitungsbüro, denn Eurogendfor ist kein feststehendes, kaserniertes Korps. Die Truppe wird im Einsatzfall von den Ländern, die sich am Netzwerk beteiligen, mit Beamten der eigenen Gendarmerie
zusammengestellt. Da nicht alle EU-Länder über eine Gendarmerie verfügen und einige europäische Verfassungen die Bildung paramilitärischer Einheiten verbieten, beteiligen sich nur Italien, Frankreich, Spanien, Portugal, die Niederlanden und Rumänien an Eurogendfor - die aber dazu
gedacht ist, Missionen im Auftrag der EU durchzuführen.
Ziel: öffentliche Ordnung wiederherstellen
Offiziell war die Europäische Gendarmerie bislang nur dreimal in Einsatz: in Bosnien-Herzegovina, in Afghanistan und 2010 in Haiti. Ihr hauptsächlicher Auftrag sei es, lokale Polizeikräfte auszubilden, sagt Oberleutnant Sisinni, Liaison Officer der Truppe. Er sagt außerdem: "Es gibt auch andere Szenarien, aber man wird sehen, ob und wann Eurogendfor in solchen Szenarien eingesetzt werde. Es kann sich zum Beispiel darum handeln, in einem destabilisierten Land die öffentliche Ordnung
wiederherzustellen."
Ob das Land sich auch innerhalb der EU befinden könnte? Der Oberleutnant schüttelt energisch den Kopf: "Nein, nein. Unser Engagement gilt Ländern, die sich außerhalb der EU befinden."
Unterdrückung großer Demonstrationen
Matthias Monroy bestätigt das, mit Einschränkungen: "Die Europäische Gendarmerie-Truppe ist tatsächlich für Einsätze in sogenannten Drittstaaten eingerichtet worden. Aber die Revolutionen finden inzwischen auch mitten in Europa statt, siehe Ukraine und Bosnien. Auch die Aufstände gegen prekäre Lebensumstände, gegen Gentrifizierung, hohe Mieten, hohe Nahrungsmittelpreise, Bankenrettung, Krisenprogramme. Fälle wie Griechenland oder Spanien rücken damit ins Herz der EU, und natürlich macht man sich dort Sorgen." In Griechenland, Spanien und Italien hat es bereits große Demonstrationen gegeben – die laut einer Studie des European Network of National Human Rights Institutions immer brutaler unterdrückt wurden.
Die Bundespolizei habe zwischen 2010 und 2013 an 73 gemeinsamen Übungen mit ausländischen Sicherheitskräften teilgenommen.
Dank einer Kleinen Anfrage der Linke-Fraktion an die Bundesregierung war zu erfahren, dass die Bundespolizei zwischen 2010 und 2013 an 73 gemeinsamen Übungen mit ausländischen Sicherheitskräften teilgenommen hat – unter anderem mit Gendarmerien, deren Knowhow sich die deutschen Beamten, die qua Verfassung keine paramilitärische Einheit bilden dürfen, somit aneignen konnten. Die Linke-Abgeordnete Christine Buchholz: "Es gibt einen Erfahrungsaustausch und wir wissen jetzt auch,
dass es gemeinsame Polizeiübungen gegeben hat, wo die Polizeien verschiedener Länder Situationen wie Hausbesetzungen und Demonstrationen gemeinsam bekämpft haben."
Die Europäische Union verfügt inzwischen auch über die juristische Legitimation, um in ein EU-Land polizeilich und militärisch eingreifen zu können. Seit dem 1. Dezember 2009 ist der Vertrag von Lissabon in Kraft. Im Artikel 222 der Vertrags, der sogenannten Solidaritätsklausel, wurde eine Art Verpflichtung zur militärischen Beihilfe im Falle eines Notstands festgelegt: "Die Union und ihre Mitgliedstaaten handeln gemeinsam im Geiste der Solidarität, wenn ein Mitgliedstaat von einem
Terroranschlag, einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe betroffen ist." In einem solchen Fall würde die Union alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel mobilisieren,
"einschließlich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel."
Mit EU-Truppen gegen Streikende?
Jürgen Wagner, Politikwissenschaftler und Vorstand der Informationsstelle Militarisierung, erläutert: "Seither wurde krampfhaft versucht, von der Europäischen Kommission, von EU-Stellen, von wem auch immer, eine Präzisierung zu bekommen, was denn eigentlich eine von Menschen verursachte Katastrophe ist. Es wurde zum Beispiel versucht, von der Kommission eine Versicherung zu erhalten, dass darunter keine Streiks zu verstehen sind." Ohne Ergebnis. Im Dezember 2012 erschien
dann ein Papier der EU-Außenbeauftragten Ashton zusammen mit der EU-Kommission. Darin wird festgestellt, dass die Klausel im Falle von Krisen oder Katastrophen in Kraft trete.
Katastrophen werden folgendermaßen definiert: "Jede Situation, die schädliche Auswirkungen auf Menschen, die Umwelt oder Vermögenswerte hat oder haben kann." Es steht außer Zweifel, dass Streiks schädliche Auswirkungen auf Vermögenswerte haben. Sollen sie künftig durch europäische Truppen unterdrückt werden?
Autorin des Radiobeitrags: Aureliana Sorrento