Sonntag, 12. November 2017

Wenn das Geld nicht mehr fürs Essen reicht

Thema: "Deutschland ist ein reiches Land"

Armut
Wenn das Geld nicht mehr fürs Essen reicht

Hagen/Siegen. Das junge Paar wirkt verloren. Amina spielt nervös mit ihren Händen, Dennis, ihr Freund, vermeidet jeden Augenkontakt. Aber zumindest haben beide jetzt keinen Hunger mehr. Der 27-Jährige hat seine Freundin heute zum ersten Mal in die Hagener Suppenküche begleitet, also dorthin, wo Bedürftige eine warme Mahlzeit bekommen.

„Ich schäme mich, obwohl wir hier alle im gleichen Boot sitzen“, sagt Dennis. Beide haben vor Kurzem ihre Wohnungen verloren, derzeit kommen sie bei einer Freundin unter. Noch. Ihr Geld reiche vorne und hinten nicht, noch nicht einmal für eine regelmäßige warme Mahlzeit. „Es ist schwer, sich das Problem einzugestehen und hierher zu kommen“, sagt die 23 jährige Amine.

Großes Team steht zur Seite

Sechs Tage die Woche hat die Hagener Suppenküche geöffnet. In den vergangenen 21 Jahren ist sie zu einer Institution geworden. Täglich kommen rund 250 Menschen vorbei, am Monatsende werden es mehr, Weil den Bedürftigen das Geld ausgeht. 16 Ehrenamtliche kümmern sich täglich um die Essensausgabe, ehrenamtlich. Insgesamt 75 Personen ist das Team groß. „Es ist wirklich erstaunlich, wie hilfsbereit die Menschen in Hagen sind“, schwärmt Ulrich Kramm, Vorstandsmitglied der Suppenküche. Jugendliche absolvieren hier Praktika, der Großteil der Helfer ist im Rentenalter. Die älteste Freiwillige ist Ingeborg Otto, 97. Nach einem Sturz Anfang des Jahres hilft sie zwar nicht mehr in der Küche, aber sie schaut immer noch regelmäßig vorbei. „Ich fühle mich dem Ort verbunden, und möchte meinen Dank gegenüber den anderen Helfern zeigen“, sagt sie.

Die Tafeln in der Region

Das Motto der Tafeln lautet: „Lebensmittel retten. Menschen helfen.“ Sie entstehen auf Initiative von Bürgervereinen oder gemeinnütziger Träger aus der Wohlfahrt. In NRW gibt es 167 Tafeln, in der Region unter anderem in Sundern, Arnsberg, Siegen, Warstein, Schwelm und Hagen.

Die Herzlichkeit der Helfer merken die Gäste schnell, Amina ist heute zum vierten Mal da und kommt ins Schwärmen: „Hier ist jeder zuvorkommend und nett“. Heute gab es Nudeln mit Gemüse und Fleischbällchen, dazu Rohkost. „Das ist lecker“, sagt sie, „und gesund. Viele hier achten ja nicht mehr so auf ihre Gesundheit“.

Für Peter, der nebenan sitzt, ist der Besuch der Suppenküche zu einem Ritual geworden, hier ist sein Stammtisch. Der 54-jährige kommt jeden Tag vorbei, seit zehn Jahren. Einige der Gäste kennt er fast genauso lang. Damals verlor er seine Arbeit, später seine Frau. „Hier fühle ich mich wohl“, sagt, der Arbeitslose.
In die Hagener Suppenküche kann jeder kommen, ein Berechtigungsschein wie bei der Hagener Tafel ist nicht nötig. Dort gibt es bis zu drei Mal die Woche die Chance, Lebensmittel für eine Woche zu erhalten. Die nötigen Scheine stellt der Caritasverband aus. Derzeit gibt es über 3.500 angemeldete Personen in Hagen.

Wie sieht es in der Region aus?

Viel Andrang herrscht auch bei der Siegener Tafel. „Wir verteilen pro Monat 80 Tonnen Essen. Wöchentlich haben wir mit rund 5.000 Bedürftigen zu tun“, sagt Sylvia Klein von der gemeinnützigen Organisation. Die Besonderheit in Siegen ist, dass es eine Hauptausgabestelle gibt und 15 weitere Ausgabeplätze. Auffallend für Sylvia Klein ist, dass sich die Klientel zuletzt geändert habe: „Heute kommen vermehrt Alleinerziehende und ältere Menschen. Da liegt vieles im Argen.“

Das belegen auch die Zahlen: In Siegen sind über 41 Prozent aller Haushalte von Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern auf unterstützende Leistungen aus der Grundsicherung angewiesen, so das Ergebnis einer Studie der Stadt.

Auch das Projekt FoodSharing Siegen hilft hungrigen Menschen - und zwar mit Lebensmitteln, die sonst im Müll landen würden. Täglich freuen sich 20 bis 30 Leute über die gespendete Ware. Der Verteilerpunkt liegt derzeit am Campus, hier greifen auch Studierende zu. „Einige von ihnen müssen auf ihr Geld achten“, erklärt Malte Niessing von Food-Sharing Siegen.

In der Hagener Suppenküche verlassen derweil die ersten Gäste langsam den Speisesaal. Auch Amine und Dennis verabschieden sich. Satt und zufrieden. Höchstwahrscheinlich werden sie morgen wiederkommen.

Quelle: Westfalenpost, 04.10.2017

Zu dem Beitrag schrieb Ulrich Kaiser folgenden Leser-Kommentar:
Vielen Dank für den erschütternden Bericht aus der Hagener Suppenküche. Die ehrenamtlichen Tätigkeiten der freiwilligen Helfer kann man nicht hoch genug loben.
In diesem Zusammenhang wirkt das Motto „Für ein Land, in dem wir gut und gerne leben“ doch wie blanker Zynismus.


Keine Kommentare :

Kommentar veröffentlichen

Der Kommentar erscheint manchmal erst nach Freigabe