Alle sechs Wochen schreibt die WeMove Europe-Geschäftsführerin eine Rundmail wie diese, um Geschichten und Einblicke zu teilen: woran wir arbeiten, wo jede*r von uns eine Rolle spielen kann. Es ist kein Aktionsaufruf. Keine Spendenaufforderung. Nur eine Geschichte.
Liebe Leser,
das Bild von Donald Trump, der sich auf dem Golfplatz weigert, seine Wahlniederlage anzuerkennen, hat mich zum Nachdenken gebracht. Einmal mehr wurde mir bewusst, an wie viel Macht sich manche Staatschefs klammern. Die USA sind nun gewiss nicht der einzige Ort, an dem Machtmissbrauch jüngst außer Kontrolle geraten ist. Auch wenn ich an Europa denke, kommt mir ein wenn auch weniger bekanntes Bild aus den letzten Wochen in den Sinn.
Es ist das von David Sassoli, dem Präsidenten des Europäischen Parlaments. Wir waren schockiert über seinen Entschluss, eine wichtige Abstimmung über die Zukunft der Agrarsubventionen kurzfristig um einen Tag vorzuziehen. Klingt nach keiner großen Sache? Naja, es ging darum, wie 60 Milliarden Euro an Agrarsubventionen pro Jahr ausgegeben werden. Die vorgezogene Ansetzung brachte die gesamte Abstimmung durcheinander. Der Verdacht lag nahe, die mächtige Agrarlobby habe ihre Finger im Spiel. [1] Das Abstimmungsergebnis jedenfalls untergräbt jetzt die EU-Klimaschutz-Ambitionen, sodass Fridays for Future sofort forderte: #WithdrawTheCap - nehmt das zurück! [2] Und ich frage mich seither: Wenn solche Tricks erlaubt sind, wo ist dann die Macht der Bürgerinnen und Bürger? Welches Mitspracherecht haben wir bei Europas größtem Geldverteilungssystem, dass das meiste Geld jenen gibt, die das meiste Land haben?
Ein anderes Bild beschreibt uns Emma von unserem Partner ‘Debt Observatory in Globalisation’ in Spanien. Kopfschüttelnd erklärt sie mir, dass es keine Möglichkeit gibt herauszufinden, wie die Milliarden an EU-Corona-Rettungsgeldern in Spanien ausgegeben werden. Und das gilt nicht allein für Spanien: Momentan kämpfen Aktivist*innen und Bewegungen in ganz Europa dafür mitzubestimmen, wie dieses Geld ausgegeben wird. Damit sichergestellt ist, dass der Übergang nach Corona wirklich grün und gerecht wird.
Wo bleibt die Macht der Menschen in Europa? Ich denke: Sie muss mehr werden. Alle 4, 5 Jahre zur Wahl zu gehen reicht nicht aus, damit eine Demokratie funktioniert. In seinem eindrucksvollen Buch "Gegen Wahlen: Warum Abstimmen nicht demokratisch ist" stellt David Van Reybrouck heraus, dass wir andere Möglichkeiten brauchen, um uns in die Entscheidungen einzubringen, die zwischen den Urnengängen getroffen werden.
Genau aus diesem Grund gibt es WeMove Europe. Wir wollen sicherstellen, dass die Menschen in Europa informiert sind und wir wollen gemeinsam Wege finden, Europa gerechter und grüner zu machen. Wir organisieren Kampagnen, Demonstrationen (wenn wir können), Twitter-Storms, Poster-Aktionen, E-Mails, Anrufe oder Treffen mit Entscheidungsträger*innen. Um zu zeigen, was Menschen wichtig ist.
Aber wir brauchen noch mehr Möglichkeiten, um den Wandel voranzutreiben. Und es gibt einen Weg, den ich für sehr vielversprechend halte: Bürger*innenversammlungen. Zugegeben, sie haben einen etwas spießigen Anstrich, aber inzwischen helfen sie Entscheider*innen dabei, Antworten auf schwierige Fragen zu finden. Indem sie Bürgerinnen und Bürger einbinden.
Zum Beispiel in meiner Heimat Irland. Dort gab es Bürger*innenversammlungen zu den kontroversesten Themen: Homo-Ehe, Abtreibung, Klimawandel. Insbesondere das Thema Abtreibung hat mich sehr bewegt, denn es hat Irland, solange ich denken kann, polarisiert. 2016 machte das irische Parlament dann eine Bürger*innenversammlung, bevor es zum Referendum schritt: Es wurden 99 Personen nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Die weitere Auswahl geschah nach Kriterien, um die Gruppe demografisch repräsentativer zu machen. Diese Leute verbrachten fünf Wochenenden damit, sich Präsentationen von beiden Seiten der Debatte anzuhören und dann ... Trommelwirbel ... begannen sie miteinander zu reden. Unvorstellbar. Sie hörten einander zu, teilten ihre Meinungen, stimmten zu, änderten ihre Meinungen oder hielten an ihnen fest. Sie haben sich gegenseitig beraten und ausgetauscht. 64% der Teilnehmer*innen stimmten schließlich für keine Einschränkungen eines Abbruchs in der Frühschwangerschaft. [3] Dieses Ergebnis führte dazu, dass der Premierminister öffentlich seine Meinung zur Abtreibung änderte. Einige meinten, die Bürger*innenversammlung sei nicht repräsentativ. Doch beim anschließenden Referendum stimmten 66% für die Aufhebung der Einschränkungen. Diese Erfahrung und die Bürger*innenversammlung zur Homo-Ehe und zum Klima waren für Irland, für unsere Demokratie und unsere Identität von großer Bedeutung.
Auch in Frankreich hat eine kürzlich abgehaltene Bürger*innenversammlung zum Klimawandel zu 149 kreativen und außergewöhnlichen Empfehlungen geführt. Macron hat sich verpflichtet, 146 davon umzusetzen. Eine der Empfehlungen ist "Ökozid", also die Zerstörung der Natur, strafbar zu machen - endlich! Eine andere Forderung der Versammlung ist die Aufnahme von Klimazielen in die Verfassung. [4] Stellen Sie sich vor, wie das den Wandel beeinflussen und Wahlperioden wie politischen Wechselspielen ihre Wirkung nehmen könnte.
Aktivist*innen in ganz Europa setzen sich derzeit für Bürger*innenversammlungen ein. Zum Beispiel Extinction Rebellion. Sie haben verstanden, dass wir Demokratie stärken müssen, um den Klimawandel aufhalten zu können. Bürger*innenversammlungen sind bereits in Spanien, Dänemark, Deutschland und Schottland geplant (obwohl die Corona-Maßnahmen diese verlangsamt haben). ‘Mehr Demokratie’ setzt sich in Deutschland schon lange für das Thema ein und konnte den Präsidenten des Bundestags, Schäuble, bereits überzeugen. Er sagte, “wir müssen die Demokratie zukunftsfähig machen.” [5] Städte in ganz Polen nutzen sie. Eine deutschsprachige Gemeinde Belgiens ist noch weiter gegangen: Sie macht Bürger*innenversammlungen zu einem offiziellen Teil des staatlichen Entscheidungssystems.
Wie wäre das auf europäischer Bühne: Was könnte das für Klimawandel-Debatten bedeuten? Was für die Debatte zu Agrar-Subventionen, die seit Jahrzehnten fast ausschließlich ohne die Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger wütet? Oder gar für Diskussionen um die Zukunft der Europäischen Union? Millionen von Europäer*innen saßen vor den Bildschirmen während der US-Wahl. Könnte eine Bürger*innenversammlung dazu beitragen, Europäer*innen Europa näherzubringen?
Eines ist sicher: In einer Zeit von ‘Fake News’, Verschwörungstheorien und der zunehmenden Polarisierung wäre es ziemlich hilfreich einen Ort zu haben, an dem Menschen zusammenkommen. Um einander zuzuhören, zu diskutieren und zu beraten. Denn Debatten können nicht nur auf Twitter stattfinden.
Begeistert Sie das Potenzial von Bürger*innenversammlungen genauso wie uns? Sollten wir uns auf europäischer Ebene für eine Bürger*innenversammlung zum Thema Klima einsetzen? Das würden wir wirklich gern von Ihnen wissen.
Mit freundlichen Grüßen
Laura Sullivan
Geschäftsführerin von WeMove Europe
Referenzen
[1] https://www.birdlife.org/europe-and-central-asia/news/press-release-european-parliament-kill-nature-CAP-22Oct2020
[2] https://twitter.com/Fridays4future/status/1320258903695781888?s=03
[3] https://www.bbc.com/news/world-europe-39687584
[4] https://www.sciencemag.org/news/2020/10/jury-duty-global-warming-citizen-groups-help-solve-puzzle-climate-action
[5] https://www.sueddeutsche.de/politik/schaeuble-bundestagspraesident-buergerraete-1.5044696
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