Freitag, 13. November 2020

Rubikon - Missbrauchte Intensivbetten

Rubikon - Missbrauchte Intensivbetten

Missbrauchte Intensivbetten

Es kann sein, dass eine hohe Zahl von Covid-19-Patienten auf Intensivstationen ökonomisch durchaus nützlich ist.

von Tilo Gräser

Die Bevölkerung wird von Politik und Medien weiter mit Zahlen und Schreckensszenarien in Angst und unter Kontrolle gehalten. Noch immer werden das Virus SARS-CoV-2 als mögliches Killervirus und die von ihm laut Weltgesundheitsorganisation WHO ausgelöste Krankheit Covid-19 als todbringende Seuche dargestellt. Dabei werden vor allem die als Infektions- beziehungsweise Fallzahlen bezeichneten positiven Ergebnisse der unsicheren, aber massenhaften PCR-Tests — in den letzten Wochen jeweils bis zu einer Million — zur Panikmache benutzt. Wissenschaftler und Mediziner mahnten immer wieder an, weitere Kriterien hinzuziehen, um die Lage zu beurteilen. Sie verwiesen dabei auf die Zahlen der im Krankenhaus wegen Covid-19 Behandelten sowie derjenigen, die als schwere Fälle auf Intensivstationen liegen, und jener, die als sogenannte Corona-Tote gemeldet werden. Erst seitdem diese Zahlen wieder steigen, werden sie öfter in den Blick genommen und medial vermeldet — doch auch das kann täuschen.


Die Intensivbetten für Covid-19-Patienten werden in drei Wochen knapp,
sagte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) am 8. November anhand von Aussagen verschiedener Mediziner voraus. Ein zweiter Beitrag des Blattes zum Thema kündigte entsprechend die „Katastrophe von morgen“ für den Advent an.

Das waren zwei aktuelle Beispiele, wie derzeit Politik und Medien die Angstmache aufrechterhalten; nun mit der steigenden Zahl der Krankenhausbehandlungen, der Intensivpatienten sowie der Todesfälle „im Zusammenhang mit Covid-19“, wie es beim vom Tiermediziner Lothar Wieler geleiteten und dem Bundesgesundheitsministerium unter Jens Spahn (CDU) unterstehenden Robert Koch-Institut (RKI) heißt. Dabei wird übergangen, dass sich jedes Jahr im Herbst und Winter die Arztpraxen und Krankenhäuser mit Patienten wegen Erkältungen und Influenza füllen — bis zum jeweils drohenden Kollaps.

Wer die aktuellen Zahlen wissen möchte, findet sie beim RKI in dessen täglichen Situationsberichten sowie in den Tagesreporten vom Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi). Für das bessere Verständnis dieser offiziellen Zahlen sei auf den Faktencheck auf dem Blog Querschuesse von Steffen Bogs verwiesen, in dem tagesaktuell die offiziellen Angaben überschaubar aufbereitet werden.

Matthias Keilich hat vor wenigen Tagen auf Rubikon gezeigt, wie derzeit mit den Zahlen der belegten Intensivbetten „Wahrheit gemacht“ wird. Er hat nachgewiesen, dass es immer darauf ankommt, die Angaben ins Verhältnis zu den Zusammenhängen zu setzen. Zugleich zeigt auch das Thema der Intensivbetten, dass es in der Corona-Krise nicht nur um Zahlen geht.

Grund zur Sorge statt zur Panik

Der Blick auf die Daten aus der Intensivmedizin macht deutlich, dass es wenig Grund für Panikmache gibt. Selbst laut Divi-Präsident Uwe Janssen ist eine Überlastung der intensivmedizinischen Kapazitäten nicht zu erwarten, wie das ZDF am 23. Oktober meldete. Es gebe ausreichend Betten und medizinisches Gerät, wurde Janssen zitiert, der aber zugleich auf den eigentlichen Engpass in jedem Winter hinwies: das fehlende Pflegepersonal.

„Die aktuelle Diskussion über die Zahl freier Intensivbetten führt zur Verunsicherung in der Öffentlichkeit“, erklärte am 3. November der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Gerald Gaß. Zugleich machte er darauf aufmerksam, dass Einschnitte in den Normalbetrieb der Stationen notwendig wären, wenn alle Intensivbetten ausgelastet würden.

„Dieser Umstand ist eine Selbstverständlichkeit, die allen Experten immer bewusst war. Niemand hat erwartet, dass die Kliniken für einen solchen Ausnahmezustand allein durch die regelhafte Personalbesetzung der Intensivstationen gerüstet sind.“

Die Zahl der 7.500 freien Intensivbetten im Divi-Register bedeute „selbstverständlich nicht, dass dort das Personal steht und darauf wartet, dass Patienten eingeliefert werden“. Bei steigendem Bedarf auf den Intensiv-Stationen werde Personal umgesetzt, so Gaß. Im März 2019 hatte bereits ein Bericht im Deutschen Ärzteblatt die Lage so beschrieben:

„Der Mangel an Pflegepersonal in der Intensivmedizin nimmt immer deutlichere Ausmaße an. Bereits jetzt kommt es in Spitzenzeiten wie der Grippewelle 2017/2018 zu Einschränkungen in der Notfallversorgung der Bevölkerung. Doch auch der Normalbetrieb ist in vielen Intensivstationen angesichts des Personalmangels häufig nicht mehr aufrechtzuerhalten, sodass vielfach Intensivbetten gesperrt werden müssen.“

Nützliche Schreckensszenarien

Gegen dieses seit Jahren bekannte Problem des Personalmangels wurde nichts getan. Dafür steigern sich Politik und Medien derzeit neu in die Panikmache hinein, wie unter anderem der Sender N-TV am 30. Oktober zeigte: „Angesichts der hohen Fallzahlen droht Deutschland eine Überlastung der Krankenhäuser, die Zahl der Covid-Intensivpatienten steigt.“

Dabei wurden wieder die aus dem Frühjahr bekannten Bilder aus dem norditalienischen Bergamo und aus New York beschworen. Die Unterschiede in der Ausgangslage im Vergleich zur bundesdeutschen Situation ließ ebenfalls der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) weg, als er am 3. November erklärte: „Es drohen uns Verhältnisse, wie wir sie im Frühjahr etwa in Bergamo gesehen haben: überfüllte Krankenhäuser; zu Notlazaretten eingerichtete Turnhallen; Ärzte, die entscheiden müssen, wer behandelt werden kann und wer nicht; Personal weit über der Belastungsgrenze.“

Am Freitag legte N-TV noch einmal nach und meldete: „Intensivpatienten- und Sterbefälle-Welle steht bevor.“ Auch hier wurde wieder nicht ins Verhältnis gesetzt. Wahrscheinlich stört das nur die Katastrophen-Berichterstattung und die Panikmache. Solche Meldungen werden gebraucht, um die Bevölkerung im erneuten Lockdown-Modus zu halten und ihre Grundrechte per Infektionsschutzgesetz dauerhaft einzuschränken. Was selbst Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linkspartei freut, beschrieb Bundestags-Unionsfraktionsvize Thorsten Frei gegenüber der Neuen Osnabrücker Zeitung so: „Wir dürfen der Regierung aber keine Fesseln anlegen.“

Unerwünschte Debatten und Fragen

Zuviel Demokratie ist nicht erwünscht, ebenso nicht der Blick auf Zusammenhänge, Entwicklungen und zurückliegende ähnliche Situationen, in denen die Kapazitäten bis an den Rand ausgelastet wurden. Die dafür Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft wollen nur ungern daran erinnert werden.

So werden in der Corona-Krise angesichts eines vermeintlichen Killervirus alle Debatten der letzten Jahre über den angegriffenen Zustand des bundesdeutschen Gesundheitswesens, über die Ursachen und Konsequenzen weggewischt.

Zugleich stellt niemand mehr kritische Fragen über Entwicklungen wie die in den letzten Jahren deutlich gestiegene Zahl nicht notwendiger teurer Operationen und kostenaufwendiger Behandlungen sowie deren Folgen.

Das betrifft auch die Krankenhäuser und deren Intensivstationen, die jetzt als Fiebermesser der Covid-19-Pandemie herhalten müssen. Über die Folgen der Ökonomisierung des Gesundheitswesens einschließlich der sogenannten Fallpauschalen für Krankenhäuser ist schon viel geschrieben worden. Darüber, wie sich diese konkret in der Corona-Krise auch auf unerwartete Weise zeigen, ist kaum etwas zu lesen.

Weniger Betten — mehr Intensivplätze

Beim panischen Blick auf die Intensivstationen werden grundlegende Fakten und Entwicklungen übersehen. So zeigen die im August dieses Jahres vom Statistischen Bundesamt (Destatis) veröffentlichten Krankenhausdaten aus dem Jahr 2018, dass die 27.464 Intensivbetten durchschnittlich zu 77 Prozent (21.147 Betten) ausgelastet waren. Dabei steigt der Wert, je größer die Klinik ist. Allgemein gilt als Idealfall, wenn die Intensivstationen zu 80 Prozent ausgelastet sind. Dieser Durchschnittswert überdeckt, dass Studien zufolge die Tage mit einer Überauslastung von mehr als 80 Prozent und auch über 100 Prozent in den letzten Jahren zugenommen haben.

Ebenso wird anscheinend übersehen, dass die Zahl der Intensivbetten seit 1991 deutlich stieg — während gleichzeitig die Zahl der Krankenhäuser und die Gesamt-Bettenzahl gesunken sind. Das hat das Bundesamt für Statistik am 7. Oktober dieses Jahres gemeldet. Danach stieg die Zahl der Intensivbetten um 36 Prozent von 20.200 im Jahr 1991 auf 27.500 im Jahr 2018. Gleichzeitig nahm bundesweit die gesamte Bettenkapazität ab: 1991 hatte es den Destatis-Angaben nach noch 666.000 Betten in 2.411 Krankenhäusern gegeben, während es im Jahr 2018 nur noch 498.000 Krankenhausbetten in 1.925 Kliniken waren — ein Rückgang um 25 Prozent. Auf diese gesamtdeutsche Entwicklung hatte bereits im Juli die Zeitschrift Lunapark 21 in ihrer Reihe „Quartalslüge“ aufmerksam gemacht.

Diese gegenläufige Entwicklung erstaunt auf den ersten Blick und wird gern mit dem demografischen Wandel erklärt: Eine zunehmend älter werdende Bevölkerung lebe zwar länger, sei aber auch häufiger erkrankt. Doch das scheint eher Vorwand als tatsächliche Ursache zu sein. Intensivmedizinische Versorgung ist zwar kostenaufwendiger, aber zugleich profitabler für die meisten der knapp 2.000 Kliniken.

Immer mehr Intensivtherapie

Interessante Hinweise dazu sind unter anderem in der 2019 im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichten Studie „Hospitalisierung und Intensivtherapie am Lebensende“ zu finden. Dafür wurde die bundesweite Krankenhausstatistik von 2007 bis 2015 ausgewertet.

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Eigene Darstellung/Datenquelle: https://www.aerzteblatt.de/archiv/209976/Hospitalisierung-und-Intensivtherapie-am-Lebensende

Danach stieg die Zahl der normalen Krankenhausbehandlungen jährlich um 0,8 Prozent von 201,9 auf 214,6 pro 1.000 Einwohner. Die stationären Intensiv-Behandlungen stiegen dagegen jährlich um drei Prozent von 6,5 auf 8,2 pro 1.000 Einwohner.

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Eigene Darstellung/Datenquelle: https://www.aerzteblatt.de/archiv/209976/Hospitalisierung-und-Intensivtherapie-am-Lebensende

Bei den Intensivpatienten stieg das Durchschnittsalter von 69 Jahren auf 71 Jahre. Laut der Studie gibt es einige Hinweise darauf, „dass die Inanspruchnahme einer Intensivtherapie am Lebensende in dieser Altersgruppe direkt mit der Anzahl von Intensivstationsbetten verknüpft ist.“

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Eigene Darstellung/Datenquelle: https://www.aerzteblatt.de/archiv/209976/Hospitalisierung-und-Intensivtherapie-am-Lebensende

Die Studie verweist auch auf Folgendes:

„Unter den Krankenhaustodesfällen erhöhte sich der Anteil der Patienten, die eine Intensivtherapie erhielten, jährlich um 2,8 Prozent von 20,6 Prozent (2007) auf 25,6 Prozent (2015). In der Altersgruppe ab 65 Jahre stieg die Zahl der im Krankenhaus Verstorbenen, die eine Intensivtherapie erhielten, dreimal so schnell wie die der Krankenhaustodesfälle.“

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Eigene Darstellung/Datenquelle: https://www.aerzteblatt.de/archiv/209976/Hospitalisierung-und-Intensivtherapie-am-Lebensende

Intensivstationen als Einnahmequellen

Gern wird darauf verwiesen, dass Deutschland weltweit eine der höchsten Anteile an Intensivbetten im Verhältnis zur Bevölkerung hat. Das Statistische Bundesamt meldete am 2. April 2020 für die Bundesrepublik 33,9 Intensivbetten auf 100.000 Einwohner. Eine vergleichsweise hohe Dichte wiesen Österreich (28,9 Intensivbetten je 100.000 Personen) und die Vereinigten Staaten (25,8) auf.

Am 3. Januar dieses Jahres hatte sich ein Beitrag in der Zeitung Rheinische Post (RP) mit diesen Zahlen beschäftigt und sie als mögliches Zeichen für eine „Übertherapie am Lebensende“ gesehen. „Obwohl die meisten Menschen in Befragungen angeben, dass sie am liebsten daheim in Ruhe ihr Leben beschließen möchten, sterben in Deutschland immer mehr alte Menschen an Apparaten“, stellte Autorin Dorothee Krings fest. „Nun könnte man das für ein Zeichen intensiverer Versorgung oder Ergebnis der demografischen Entwicklung in Deutschland halten“, meinte sie. Aber die in der erwähnten Studie beschriebene Tendenz bleibe bestehen, wenn die Altersentwicklung berücksichtigt werde.

In vielen Fällen gehe es auf der Intensivstation „also nicht um die Stabilisierung eines Patienten mit Heilungsaussichten“, auch mit schwerwiegenden Eingriffen, „sondern um die Versorgung am Lebensende“, so die RP-Redakteurin. Sie fragte, „ob wirtschaftliche Interessen eine Rolle spielen. Insbesondere bei Menschen, die am Lebensende künstlich beatmet werden müssen, gibt es hohe Fallpauschalen.“ Auch „jenseits der Versorgung von Beatmungspatienten könnten hohe Sätze für die Intensivpflege dazu führen, dass Patienten am Lebensende übertherapiert werden“.

In dem Beitrag wurde unter anderem Matthias Thöns, Palliativ- und Notfallmediziner, zitiert:

„Angebot schafft Nachfrage, gibt es leere Intensivbetten, legt man da einen Sterbenden hinein.“

Das klingt aus heutiger Sicht wie ein Vorab-Kommentar der aktuellen Situation. Thöns hatte im Frühjahr dieses Jahres im Zusammenhang mit Covid-19 mehrmals die „sehr einseitige Ausrichtung auf die Intensivbehandlung, auf das Kaufen neuer Beatmungsgeräte, auf Ausloben von Intensivbetten“ kritisiert.

Falsche Prioritäten und ethische Probleme

Gegenüber dem Sender Deutschlandfunk (DLF) erklärte der Mediziner Mitte April 2020, es müsse bedacht werden, dass es sich bei den schwer erkrankten Betroffenen „meistens um hochaltrige, vielfach erkrankte Menschen handelt, 40 Prozent von denen kommen schwerstpflegebedürftig aus Pflegeheimen“. Und:

„Also es ist eine Gruppe, die üblicherweise und bislang immer mehr Palliativmedizin bekommen hat als Intensivmedizin, und jetzt wird so eine neue Erkrankung diagnostiziert und da macht man aus diesen ganzen Patienten Intensivpatienten.“

Thöns kritisierte in dem DLF-Interview „sehr falsche Prioritäten“ und fügte hinzu, „es werden ja auch alle ethischen Prinzipien verletzt, die wir so kennen“. Er verwies auf frühzeitige Erkenntnisse aus China, dass bei einem schweren Krankheitsverlauf nur drei Prozent der Betroffenen gerettet werden konnten, „97 Prozent versterben trotz Maximaltherapie — so eine Intensivtherapie ist leidvoll, da stimmt ja schon das Verhältnis zwischen Nutzen und Schaden kaum“.

Eine Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der Krankenkasse AOK (Wido), der Divi und der Technischen Universität (TU) Berlin hatte Ende Juli ergeben, dass 53 Prozent der Krankenhaus-Patienten mit Covid-19-Diagnose, die künstlich beatmet wurden, verstarben. Insgesamt seien 17 Prozent der Patienten in Krankenhäusern, bei denen Covid-19 diagnostiziert wurde, beatmet worden.

„Die höchsten Sterblichkeitsraten waren bei beatmeten Patienten in der Altersgruppe von 70 bis 79 Jahren (63 Prozent) sowie bei den Patienten ab 80 Jahren (72 Prozent) zu verzeichnen.“

Bei den Patienten ohne Beatmung habe der Anteil der Verstorbenen mit 16 Prozent „deutlich niedriger“ gelegen.

Die Spur des Geldes

Mit Stand 3. November 2020 lag das mittlere Alter der „im Zusammenhang mit Covid-19“ Verstorbenen laut RKI bei 82 Jahren. Der allergrößte Teil von ihnen litt an einer oder mehreren Vorerkrankungen. Palliativmediziner Thöns verwies in dem Zusammenhang gegenüber dem DLF darauf, dass Gerechtigkeit „ja auch ein wichtiges, ethisches Prinzip“ sei. Angesichts der begrenzten Zahl an Intensivbetten sei „irgendwann die Entscheidung“ zu treffen, „wird da jetzt ein hochaltriger Patient kaum mit Rettungschancen weiterbeatmet oder eben der junge Familienvater nach einem Verkehrsunfall oder einem Herzinfarkt. Das ist eine schwierige ethische Entscheidung.“

Thöns betonte:

„Völlig klar müssen wir so viele Menschen retten — mit von den Menschen gewollten Maßnahmen — wie möglich.“

Er erinnerte daran, dass sich in der Vergangenheit gezeigt habe, „dass sich die hochpreisige Intensivmedizin in einen Bereich ausgedehnt hat, wo das die meisten Menschen für sich nicht wollen“. Es gebe „schon deutliche Hinweise, dass da Geld eine Rolle spielt, und wir wissen ja alle, dass Beatmungsmedizin extrem gut vergütet wird, da wird ein Tag zum Beispiel über 24 Stunden Beatmung teilweise mit über 20.000 Euro vergütet“.

Folgenreiche Denkfehler

Zuvor hatte der Mediziner gegenüber der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) in einem Interview gesagt: „Die reine Fokussierung auf die Intensivmedizin und den Ausbau der Beatmungsplätze ist ein Denkfehler.“ Und:

„Zu denken, wir müssen einfach nur mehr Geräte kaufen, wird kein Menschenleben retten. Die meisten, das muss man sagen, sterben trotzdem.“

Er habe „noch keinen hochaltrigen Patienten erlebt, der bei unzureichender Immunabwehr eine Beatmung überlebt hat. Das bedeutet, diese Patienten mit Covid-19 werden in den sicheren, anonymen, unbegleiteten Tod geschickt. Das ist eine ethische Katastrophe!“

Erwartungsgemäß reagierten die Fachverbände der bundesdeutschen Intensivmediziner empört und verteidigten die Behandlung der Covid-19-Patienten. Das berichtete unter anderem das Deutsche Ärzteblatt Anfang Mai 2020:

„Die Versuche einzelner Ärzte, in den Medien Angst vor einer Beatmung zu schüren, führten zu einer unnötigen Verunsicherung der Patienten, erklärten unter anderen der Berufsverband Deutscher Anästhesis¬ten (BDA), die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) sowie die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI).“

Vorliegende Daten würden zeigen, „dass rund 70 Prozent der Intensivpatienten mit Covid-19 die Behandlung auf einer Intensivstation überlebten“, so die Intensivmediziner.

Umsatz auf Patientenkosten

Zuvor hatte Thöns in der ZDF-Sendung Markus Lanz am 29. April 2020 gesagt, nach europaweiten Daten würden nur bis zu 12 Prozent dieser schwer pflegebedürftigen, meist sehr alten Menschen die künstliche Beatmung in Intensivstationen überleben. Die restlichen litten anschließend fast alle an deren Folgen.

Thöns hatte bereits vor der Corona-Krise auf die grundlegenden Probleme dieses Medizinbereichs aufmerksam gemacht. So schrieb er unter anderem 2017 in einem Beitrag für das Magazin Gesundheit und Gesellschaft der AOK, das Vergütungssystem und die Bonusverträge für Ärzte setzten Anreize für Kliniken, todkranke Patienten der Intensivmedizin zu unterziehen. Er warnte vor den leidvollen und teuren Folgen der Übertherapie und forderte- unter anderem, Transparenz im Gesundheitswesen und Fehlanreize abzubauen.

Als 2019 mehr als 1.000 Ärzte in einem Appell, den das Magazin Stern veröffentlichte, vor den Folgen des 2003 in den Krankenhäusern eingeführten Fallpauschalen-Systems warnten, war Thöns unter ihnen.

„Die Diagnose entscheidet darüber, wie interessant wir für das Haus sind“, war da unter anderem zu lesen. „Das große Los für die Klinik ist finanziell gesehen ein Krebspatient.“

Fast alle der beteiligten Ärzte nannten laut Stern zwei Ursachen für die Misere: extremer ökonomischer Druck und das „Fallpauschalen-System“. Dabei gelte die Faustregel: „Je höher der Aufwand, desto mehr Geld.“

„Das Fallpauschalen-System, nach dem Diagnose und Therapie von Krankheiten bezahlt werden, bietet viele Anreize, um mit überflüssigem Aktionismus Rendite zum Schaden von Patientinnen und Patienten zu erwirtschaften“, war weiter zu lesen. „Es belohnt alle Eingriffe, bei denen viel Technik über berechenbar kurze Zeiträume zum Einsatz kommt — Herzkatheter-Untersuchungen, Rückenoperationen, invasive Beatmungen auf Intensivstationen und vieles mehr.“ Palliativmediziner Thöns sagte dazu 2019 in einem Interview, es werde „schlichtweg Umsatz gemacht, auf Kosten der Patienten“.

Gelddruckmaschinen und Keimhorte

Mediziner bestätigen das erwartungsgemäß nur selten und kaum offen. Immerhin hatte 2018 der Onkologe Alexander von Paleske in einem Blogbeitrag über die „Medizin ohne Menschlichkeit“ geschrieben: Die Intensivstationen hätten sich „offenbar zu einer Art ‚Gelddruckmaschine‘ für Krankenhäuser entwickelt, und zwar durch das großzügige Vergütungssystem“.

„So werden selbst hoffnungslose Fälle, die bestenfalls mit einer minimalen Lebensverlängerung rechnen und reine Palliativbehandlung brauchen, aber auch durch die Komplikationen dieser Intensivbehandlung nicht selten eine Lebensverkürzung erfahren können oder als Pflegefälle enden, zu Intensivpatienten.“

Paleske wies auch auf das mit der maschineller Beatmung verbundene Risiko nosokomialer, also im Krankenhaus erworbener Infektionen beispielsweise der Atemwege oder Besiedlung von Liegegeschwüren hin, die besonders resistent gegen Antibiotika seien.

„Die Intensivstationen sind von dieser Art von resistenten Bakterien dank des massiven Einsatzes potenter Antibiotika besonders betroffen.“

Intensivstationen in Krankenhäusern sind generell die Abteilungen mit den meisten nosokomialen Infektionen, schätzte die europäische Seuchenbehörde „European Centre for Disease Prevention and Control“ (ECDC) 2018 ein. Die Ärztezeitung berichtete Mitte November 2019: „Die Zahl der nosokomialen Infektionen in Deutschland liegt laut aktueller Schätzung des Robert Koch-Instituts (RKI) bei 400.000 bis 600.000 pro Jahr und damit über dem europäischen Schnitt.“ Die Zahl der durch diese Infektionen verursachten Todesfälle pro Jahr wurde mit 10.000 bis 20.000 angegeben.

Mediziner Paleske fügte seiner kritischen Sicht hinzu, er selbst habe als Facharzt auf einer Intensivstation „zu Beginn der 80er Jahre noch eine menschliche Medizin erlebt und praktiziert. Hier muss in der Tat von guten alten Zeiten gesprochen werden.“ Intensivstationen seien „ein Segen bei der Überbrückung von Akutsituationen“, betonte er.

„Wer hier pauschal von Apparatemedizin spricht, der versteht nicht, wie notwendig und lebensrettend diese Einrichtungen sind. Hier aber geht es eben um den Missbrauch aus pekuniären Gründen.“

Intensivbetten steigern Erlöse

Im November 2019 brachte die Sendung „Monitor“ des WDR einen Beitrag „Intensivmedizin am Lebensende: Zu Tode therapiert?“ Darin wurde Christiane Hartog, Versorgungsforscherin am Universitätsklinikum Jena, so zitiert:

„Ich denke mir, dass die Krankenhäuser, die sich dazu entscheiden — und das geht ja flächendeckend über alle Krankenhausgrößen, immer mehr Intensivbetten aufzubauen — das wirklich mit dem Blick darauf tun, dass sie darüber Erlöse erzielen.“

Günther Jonitz, Präsident der Ärztekammer Berlin, bestätigte in dem Beitrag:

„Sie haben praktisch keine andere Chance, als permanent entweder mehr Fälle zu generieren, um mehr Einnahmen zu generieren, oder höhere Schweregrade zu erzeugen, um mehr Einkommen zu erzeugen. Ein Krankenhaus, das jetzt wirklich eine grundsolide, angemessene Medizin macht, ist nach einem Jahr pleite.“

Ein Beispiel dafür lieferte Alexander Poppinga, Vorstand des Evangelischen Krankenhauses Oldenburg, Ende November 2019. In einem Interview mit dem Magazin TIP der Medizin-IT-Sparte TIPHCe des Konzerns Agfa-Gevaert NV erklärte er, wie die Klinik die „Erlösseite“ verbesserte:

„Wir verlegten den Fokus von nicht-intensivpflichtigen zu intensivpflichtigen Patienten und konnten dadurch den Erlös deutlich erhöhen. Dies erforderte aber natürlich auch einen immensen Aufwand in den Bau neuer Intensivstationen und den Aufbau von Personal.“

Poppinga über das Ergebnis: „Den Umsatz konnten wir um 63 Prozent steigern und das Ergebnis von 10 Millionen Euro Verlust auf einen siebenstelligen Euro-Gewinn im Jahr 2018 drehen.“

Im Visier der Ökonomisierer

Das ist nur ein klares Beispiel für etwas, was 1998 bereits im Deutschen Ärzteblatt so beschrieben wurde:

„Das im Gesundheitssystem erbrachte Leistungsspektrum orientiert sich primär — völlig zu Recht — an den wirtschaftlichen Überlebenschancen der Leistungserbringer und nicht an den Bedürfnissen der Leistungsnehmer.“

Geschrieben hatten das der Mediziner Franz Porzsolt und der Rechtswissenschaftler Dieter Hart.

Die Krankenhäuser sind seit Langem im Fokus jener Ökonomisierer wie die Bertelsmann-Stiftung, die sie im Namen der Effektivität weiter unter Druck setzen. Dabei haben sich ihre Überlebenschancen in Folge der Corona-Krise verschlechtert: „Wegen Corona schreiben die meisten Krankenhäuser laut einer Studie rote Zahlen“, meldete die Süddeutsche Zeitung am 24. Juli 2020.

Die Zeitung berief sich auf die „Krankenhausstudie 2020“ der Unternehmensberatung Roland Berger. Darin wird als „Hauptgrund“ für die verschlechterte wirtschaftliche Situation der Kliniken genannt:

„Sowohl auf den Intensiv- als auch den Normalstationen sank die Auslastung während der Pandemie-Hochphase im März und April deutlich. Nicht dringliche Operationen mussten verschoben werden, weil viele Kliniken vorsorglich Betten für an Covid-19 erkrankte Personen freihielten.“

Einnahmeverluste durch Corona-Politik

Nach dem Ende März erlassenen Krankenhausentlastungsgesetz erhielten Kliniken pro Tag eine Pauschale von 560 Euro für jedes freigehaltene Bett. Anfangs sollten die Krankenhäuser 50 Prozent ihrer Intensivbetten freihalten, was Berichten zufolge schrittweise wieder reduziert wurde. Mitte September berichtete die FAZ, in den meisten Bundesländern würden nur noch 10 Prozent der Intensivbetten für potenzielle Covid-19-Patienten reserviert.

„Vor allem Häuser mit mehr als 1.000 Betten stellt das vor ein Problem“, so die Berger-Studie:

„Bei 75 Prozent der befragten Krankenhäuser reichten die Ausgleichszahlungen nicht aus, um Einnahmeausfälle durch eine geringere Auslastung und coronabedingte Kostensteigerungen aufzufangen.“

Laut eines Berichts der Ärztezeitung vom 27. August 2020 konnten vor allem kleinere Häuser ihre Erlössituation durch die Ausgleichszahlungen verbessern. Grundlage war eine Analyse eines vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) eingesetzten Expertenbeirats. Danach mussten größere Krankenhäuser mit mehr als 800 Betten Erlösrückgänge hinnehmen. Die Hälfte aller somatischen Kliniken hat dem Bericht nach mehr Einnahmen verzeichnet. „Dabei gilt: Je größer ein Haus ist, desto geringer die Erlöse.“ Die großen Kliniken sind gerade jene mit vielen Intensivbetten und noramlerweise hoher Auslastung der entsprechenden Stationen. Die Einnahmesituation muss also wieder verbessert werden – auch durch stärker ausgelastete Intensivstationen.

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) hatte bereits am 21. März 2020 erklärt, dass die staatlichen Hilfsgelder nicht ausreichen. So hieß es zu den angekündigten 30.000 Euro pro neu bereitgestelltem Intensivbett für potenzielle Covid-19-Patienten:

„Alle Experten der Intensivmedizin kalkulieren den tatsächlichen Aufwand für ein vollwertiges Intensivbett mit 85.000 Euro pro Platz (in Summe 900 Millionen Euro). Wenn es den Kliniken tatsächlich gelingt, 28.000 zusätzliche Intensivplätze herzustellen, kostet sie das 2,38 Milliarden Euro.“

Die Bundesregierung gab etwas nach und bezahlte 50.000 Euro für jedes neu geschaffene Intensivbett mit Beatmungsmaschine. Was mit dem Geld wirklich geschah, scheint aber unklar, wie Medienberichte vom September zeigten. Es sind bis heute auf jeden Fall weniger als die angekündigten 40.000 Intensivbetten entstanden.

Krankenhäuser weiter im Visier

Die DKG warnte damals, dass das Finanzkonzept der Bundesregierung „eine Katastrophe für die Krankenhäuser“ bedeute. „Mit diesem Gesetzentwurf laufen wir Gefahr, dass in wenigen Monaten Krankenhäuser in Insolvenz gehen.“ Ob das vielleicht einer der beabsichtigten Effekte der Krise ist, kann nur vermutet werden. Zumindest halten die Debatten über angeblich zu viele Krankenhäuser in Deutschland an.

So erklärte Martin Litsch, Vorstandschef des AOK-Bundesverbandes, Anfang September 2020 in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), die Pandemie bestätige, dass von den knapp 2.000 Krankenhäusern in Deutschland ein Viertel nicht notwendig sei. Der ökonomische Druck und der zunehmende Fachkräftemangel werden eine „Reform“ befördern, so der AOK-Chef. Gleichzeitig steigt so verständlicherweise das Interesse jeder einzelnen Einrichtung, zu zeigen, dass sie unverzichtbar ist und überleben muss.

Um das Geschehen in der Corona-Krise zu verstehen, ist es wichtig, der Spur des Geldes zu folgen. Das gilt ebenso für den Versuch, zu verstehen, wie es tatsächlich um die Situation der Intensivmedizin in dieser Krise steht und welche Rolle sie dabei spielt. Es gilt natürlich grundsätzlich, was der Mediziner Paleske 2018 schrieb: dass diese Einrichtungen notwendig und lebensrettend sind. Aber insbesondere jetzt muss gefragt werden: Wie steht es um den „Missbrauch aus pekuniären Gründen“?


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Tilo Gräser Tilo Gräser, Jahrgang 1965, ist Rubikon-Redakteur. Zuvor hat er als Korrespondent für RIA Novosti Deutschland/Sputniknews gearbeitet. Der Diplom-Journalist war bereits für verschiedene Medien und als Pressesprecher tätig. Seine Schwerpunkte sind Politik, Soziales und Geschichte..
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Der Artikel ist erschienen bei :Rubikon-News

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