Samstag, 12. Juni 2021

Rubikon - Das Gesicht und der Tod

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Das Gesicht und der Tod

Um die Tatsache der Sterblichkeit zu verdrängen, müssen wir unter einer Maske verschwinden und ein lebloses Dasein fristen.
von Giorgio Agamben

Sag mir, was du nicht anschauen willst, und ich sage dir, wovor du Angst hast. Es sieht aus, als seien in der neuen planetarischen Ordnung, die sich abzuzeichnen beginnt, zwei Dinge — anscheinend ohne einen Bezug zueinander — dazu bestimmt, vollständig zu verschwinden: das Gesicht und der Tod. Der Autor versucht zu erkunden, ob sie nicht doch auf irgendeine Weise miteinander verbunden sind und worin der Sinn ihrer Verdrängung besteht. Mit dem politisch diktierten Verschwinden der Gesichter unter den Masken werden die Lebenden zu Schatten ihrer Selbst — Toten nicht unähnlich.


Dass der Anblick des eigenen Gesichts und des Gesichts der
anderen für den Menschen eine entscheidende Erfahrung ist, war schon in der Antike bekannt: „Das, was man das ‚Gesicht‘ nennt“, schreibt Cicero, „kann es bei keinem Tier als nur dem Menschen geben“. Und die Griechen definierten den Sklaven, der nicht Herr seiner selbst ist, als aproposon, wörtlich „gesichtslos“. Gewiss zeigen sich alle Lebewesen einander und kommunizieren miteinander, aber nur der Mensch macht aus seinem Gesicht den Ort seines Erkennens und seiner Wahrheit.

Der Mensch ist das Tier, das sein Gesicht im Spiegel erkennt und sich im Gesicht des anderen spiegelt und wiedererkennt.

Das Gesicht ist, in diesem Sinne, gleichermaßen die Similitas, die Ähnlichkeit, wie die Simultas, das gemeinsame Sein der Menschen. Ein Mensch ohne Gesicht ist notwendigerweise allein.

Deshalb ist das Gesicht der Ort der Politik. Wenn die Menschen sich stets und ausschließlich Informationen mitzuteilen hätten, immer diese oder jene Sache, gäbe es keine wirkliche Politik, sondern bloß einen Austausch von Nachrichten. Aber da die Menschen einander vor allem ihre Offenheit mitzuteilen haben, ihr gegenseitiges Wiedererkennen in einem Gesicht, ist das Gesicht selbst die Bedingung der Politik, das, worin all das gründet, was die Menschen einander sagen, was sie austauschen.

Das Gesicht in diesem Sinn ist die wahre Stadt des Menschen, das politische Element par excellence. Indem sie sich einander ins Gesicht sehen, erkennen die Menschen einander und begeistern sich für einander, nehmen Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit wahr, Distanz und Nähe. Wenn es kein politisches Tier gibt, so deshalb, weil die Tiere, die immer schon im Freien sind, aus ihrer Ausgesetztheit kein Problem machen; sie halten einfach darin auf, ohne sich darum zu bekümmern.

Deshalb interessieren sie sich nicht für Spiegel, für das Bild als Bild. Der Mensch hingegen will sich selbst erkennen und erkannt werden, will sich das eigene Bild aneignen, sucht darin die eigene Wahrheit. Auf diese Weise verwandelt er die tierische Umwelt in eine Welt, in ein Feld unaufhörlicher politischer Dialektik.

Ein Land, das beschließt, auf sein eigenes Gesicht zu verzichten, allerorten die Gesichter der eigenen Bürger mit Masken zu bedecken, ist also ein Land, das in sich jede politische Dimension ausgelöscht hat.

In dieser Leere, jederzeit einer grenzenlosen Kontrolle unterworfen, bewegen sich nun Individuen, isoliert voneinander, die das unmittelbare und spürbare Fundament ihrer Gemeinschaft verloren haben und nur noch Nachrichten austauschen können, die nur noch an einen Namen ohne ein Gesicht gerichtet sind. Und da der Mensch ein politisches Tier ist, bedeutet das Verschwinden der Politik auch die Entfernung des Lebens: Ein Kind, das bei der Geburt nicht mehr das Gesicht der eigenen Mutter sieht, läuft Gefahr, menschliche Gefühle nicht mehr wahrnehmen zu können.

Nicht weniger wichtig als die Beziehung zum Gesicht ist die Beziehung zu den Toten. Der Mensch, das einzige Tier, das sich im eigenen Gesicht erkennt, ist auch das einzige Tier, das den Totenkult feiert. Es überrascht daher nicht, dass auch die Toten ein Gesicht haben und dass sich die Auslöschung des Gesichts im Gleichschritt mit der Entfernung des Todes vollzieht.

In Rom nimmt der Tote mittels seiner Imago, des aus Wachs geformten und bemalten Bildes, das jede Familie im Flur des eigenen Hauses aufbewahrt, Anteil an der Welt der Lebenden. Der freie Mensch ist also gleichermaßen durch seine Teilnahme am politischen Leben der Stadt wie durch sein Ius Imaginum, das unveräußerliche Recht, das Gesicht seiner Vorfahren zu bewahren und es bei den Festen der Gemeinde öffentlich auszustellen.

„Nach der Bestattung und den Begräbnisriten“, schreibt Polybios, „wurde die Imago des Toten am sichtbarsten Punkt des Hauses in einem hölzernen Reliquienschrein platziert und dieses Bild ist ein Gesicht aus Wachs, das sowohl in Form als auch Farbe exakt nachgebildet ist.“

Diese Bilder waren nicht nur Gegenstand eines privaten Gedenkens, sondern das greifbare Zeichen der Verbundenheit und der Solidarität zwischen den Lebenden und den Toten, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, und sie waren integraler Bestandteil des städtischen Lebens. Deshalb spielten sie eine so wichtige Rolle im öffentlichen Leben, dass man behaupten könnte, dass das Recht an den Bildern der Toten das Laboratorium sei, in dem das Recht der Lebenden gründet.

Dies ist so wahr, dass derjenige, der sich öffentlich durch ein schweres Verbrechen besudelt hatte, das Recht auf das Bild verlor. Und der Legende nach ließ Romulus, als er Rom gründete, eine Grube — Mundus, „Welt“ genannt, ausheben, in welche er und jeder seiner Gefährten eine Handvoll der Erde warf, von der sie stammten. Diese Grube wurde dreimal im Jahr geöffnet und man glaubte, dass an diesen Tagen die Mani, die Toten, in die Stadt kamen und am Diesseits der Lebenden teilnahmen. Die Welt ist nur die Schwelle, über die die Lebenden und die Toten, die Vergangenheit und die Gegenwart kommunizieren.

So wird verständlich, warum eine Welt ohne Gesichter nichts anderes als eine Welt ohne Tote sein kann. Verlieren die Lebenden ihr Gesicht, werden die Toten nur Nummern, die, weil sie auf ihr bloßes biologisches Leben reduziert worden sind, allein und ohne Begräbnis sterben müssen.

Und wenn das Gesicht der Ort ist, an dem wir noch vor jedem Gespräch mit unseren Mitmenschen kommunizieren, so sind auch die ihrer Beziehung zum Gesicht beraubten Lebenden unweigerlich allein, egal wie sie sich bemühen, mit digitalen Geräten zu kommunizieren.

Das planetarische Projekt, das die Regierungen zu erzwingen suchen, ist folglich radikal unpolitisch. Im Gegenteil schlägt es vor, jedes genuin politische Element aus der menschlichen Existenz zu eliminieren, um es durch eine auf algorithmischer Kontrolle gründete Gouvernementalität zu ersetzen.

Auslöschung des Gesichts, Entfernung der Toten und soziale Distanzierung bilden die essenziellen Dispositive dieser Gouvernementalität, die gemäß den übereinstimmenden Erklärungen der Mächtigen auch dann beibehalten werden muss, wenn der Gesundheitsterror gelockert wird.

Jedoch: Eine Gesellschaft ohne Gesicht, ohne Vergangenheit und ohne physischen Kontakt ist eine Gesellschaft von Gespenstern, gleichsam zu einem mehr oder weniger schnellen Ruin verdammt.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien am 30. April 2021 unter dem Titel „Il volto e la morte“ im Blog Quodlibet. Er wurde von Thorsten Schewe aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzerteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratteam lektoriert.


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Giorgio Agamben Giorgio Agamben, Jahrgang 1942, lehrt heute als Professor für Ästhetik an der Facoltà di Design e Arti der Universität Iuav in Venedig, an der European Graduate School in Saas-Fee sowie am Collège International de Philosophie in Paris. Sein Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.
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Der Artikel ist erschienen bei :Rubikon-News

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