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Geheimdienst
Nach NSA-Sonderbericht kommen Rufe nach Bundesanwalt
Sonderermittler Kurt Graulich legt seinen Bericht zu Späh-Affäre des US-Geheimdienstes NSA vor. Übernimmt jetzt der Staatsanwalt?
von Christian Kerl
Berlin. Kurt Graulich kann so schnell nichts aus der Ruhe bringen. Der Sonderermittler der Bundesregierung in der NSA-Affäre ist Zen-Buddhist, wandert regelmäßig durch den Himalaja und meditiertjeden Tag. Doch was der 65-jährige Ex-Bundesrichter bei der Überprüfung der amerikanischen Spionagepraxis in Deutschland und Europa herausfand, hat auch ihn tief erschreckt: Der US-Geheimdienst NSA hat überjahre und in „überraschend großer Zahl” versucht, mithilfe des Bundesnachrichtendienstes (BND) selbst Bundesbürger und deutsche Unternehmen auszuspionieren.
Mit deutscher Hilfe
Das beklagt Graulich in seinem Abschlussbericht, der unserer Redaktion vorliegt. Vor allem versuchte die NSA demnach, mit deutscher Hilfe europäische Regierungseinrichtungen auszuspionieren. Der amerikanische Geheimdienst habe damit klar und gravierend gegen vertragliche Vereinbarungen mit der Bundesregierung verstoßen. Zu den ausspionierten Unternehmen gehörten europäische Rüstungskonzerne wie EADS und Eurocopter, aber auch Spezialbauunternehmen aus Deutschland.
Die Bundesregierung hatte im Juli den ehemaligen Bundesverwaltungsrichter Graulich beauftragt, eine Sogenannte Selektorenliste der NSA zu überprüfen — es handelt sich um 40.000 Suchbegriffe aus den Jahren 2005 bis März 2015, die der BND in seine eigenen Überwachungssysteme in der BND-Abhörstation Bad Aibling einspeisen sollte. Die Liste umfasst nur solche Begriffe, die der BND früher oder später selbst aussortierte, weil die Mitarbeiter bemerkten, dass entgegen der Vereinbarung deutsche oder europäische Interessen berührt waren.
Viele Selektoren wurden nie eingesetzt, andere aber waren mindestens drei Monate, womöglich überJahre aktiv. Graulich ist der einzige Fachmann, der die umstrittene Liste außerhalb von BND und Kanzleramt einsehen konnte; die Bundesregierung hatte die Forderung der Opposition, das Dokument auch dem NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestags zu überlassen, mit Rücksicht auf die USA abgelehnt.
Regierungen im Visier
Zentrale Ergebnisse der viermonatigen Überprüfung: Fast 70 Prozent der aussortierten Selektoren betrafen Regierungsstellen von EU-Ländern. Zum Teil habe die amerikanische Spionage ganze Mitarbeiterstäbe von Regierungen im Visier gehabt. Ein klarer Verstoß gegen die deutsch-amerikanische Kooperationsvereinbarung, die obendrein die deutsche Position gegenüber ihren europäischen Partnern potenziell gefährdet habe, heißt es in dem Bericht.
Noch gravierender: Knapp 16 Prozent der Suchbegriffe, die die Amerikaner den Deutschen übermittelten, trafen auch Einrichtungen und Bürger in Deutschland - obwohl die verfassungsrechtlich vor Ausspähung durch eigene Nachrichtendienste geschützt sind. In über 1000 Fällen sah Graulich einen versuchten „Verstoß gegen deutsche Interessen”.
Die Bundesregierung kündigte an, technische und organisatorische Defizite bei der BND-Auslandsspionage zu beheben. Für die sogenannte Fernmeldeaufklärung werde es eine klarstellende gesetzliche Regelung geben.
Das Kanzleramt sah sich aber in der Einschätzung bestätigt, massenhafte Ausspähung deutscher und europäischer Staatsbürger habe es nicht gegeben.
Der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestags (PKGr), Andre Hahn, forderte dagegen als Konsequenz aus dem Bericht neue Ermittlungen durch Generalbundesanwalt Peter Frank.
„Der Generalbundesanwalt muss den Berichtjetzt prüfen und förmliche Ermittlungsverfahren einleiten — gegen BND-Mitarbeiter, aber möglichst auch gegen NSA-Bedienstete”, sagte Hahn dieser Zeitung.
Wenn es etwa auf US-Wunsch zur Wirtschaftsspionage durch den BND gekommen sei, dann stehe der Auslandsnachrichtendienst unter dem Verdacht der Beihilfe zu Straftaten.
Opposition will weiterhin klagen
Linke und Grüne im Bundestag bestehen auch nach dem Bericht des Sonderermittlers auf Einsicht in die Sektorenliste. An der Klage beim Verfassungsgericht werde festgehalten, erklärten sie. Zudem müssten alle 14 Millionen Suchaufträge der NSA überprüft werden.
Quelle: gedruckte Westfalenpost am 31.10.2015
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