Gekaufte Forschung
Eine verspätete Kritik der marktkonformen Wissenschaften. von Hans SeeWissenschaft sollte — ihrer Defition nach — voraussetzungsfrei auf die Welt schauen. Ohne die Grenzen ideologischer Konzepte, die den Blick auf die Wahrheit verstellen könnten. Leider hat Wissenschaft auch in unserer Zeit zumindest eine Voraussetzung: Geld, das nötig ist, um Forschungen zu finanzieren. Und da kommen Konzerne und Kapitaleigner ins Spiel. Sie zwingen Wissenschaftler oft zu Kompromissen der Art „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“. Das Kapital kauft sich diejenigen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die seine Profitinteressen für die Öffentlichkeit klug begründen. Für den Autor bedeutete ein Buch von Christian Kreiß diesbezüglich ein Aha-Erlebnis.
Bei meinen Internetrecherchen zum Thema Wirtschafts- und
Wissenschaftskriminalität entging mir das bereits 2015 erschienene Buch von Christian Kreiß mit dem Titel „Gekaufte Forschung — Wissenschaft im Dienst der Konzerne“ (1). Das kann ich mir nur damit erklären, dass Titel und Inhalt des Bandes keinen ausdrücklichen Bezug zu meinen Schwerpunktthemen haben, die ich unter dem Begriff kriminelle Ökonomie zusammenfasse. Die Algorithmen der von mir benutzten Suchmaschinen kennen mein Interesse schon viele Jahre. Sie empfehlen mir aber, wie ich jetzt feststellen musste, keine Bücher, deren Autoren und Werbetexter Begriffe wie Kriminalität und Verbrechen im Zusammenhang mit der Wirtschaft, der Wirtschaftsordnung und der Wissenschaft vermeiden, obgleich sie zumindest das hoch kriminogene Vorfeld beackern.
Als ich vor einiger Zeit einen wissenschaftskritischen Artikel über die Konzernideologie und ihren verheerenden Einfluss auf markt- und kapitalrelevante Wissenschaften unter der Überschrift „Die Konzern-Marionetten“ im Internetportal „Rubikon“ veröffentlichte, erhielt ich erstaunlicherweise nur zustimmende Zuschriften. Darunter eine des mir bis dahin unbekannten Kollegen und Buchautors Christian Kreiß. Sofort kaufte ich mir sein Buch, das ich nach gründlicher Lektüre jedem empfehlen kann, dem meine Kritik an den von allzu kapitalhörigen Marktwissenschaftlern heruntergewirtschafteten Disziplinen als falsch, zumindest jedoch als stark übertrieben erscheint.
Wer das äußerst sorgfältig recherchierte Buch des Wirtschaftswissenschaftlers Kreiß gelesen hat, wird — zumal der Autor jahrelang Investmentbanker war — verstehen, weshalb ich von einem konzerngesteuerten Wissenschaftsbetrieb spreche und beklage, dass Wissenschaftler dieses Problem übersehen oder verharmlosen.
In seinem Buch vermeidet Christian Kreiß auch — wie andere Autoren in anderen Zusammenhängen — in seiner doch äußerst kritischen Problemanalyse zur Drittmittelforschung und der Wirtschaftsabhängigkeit sogenannter Stiftungsprofessuren Begriffe, die die Akteure in die Nähe von Kriminellen rücken könnten. Das ist freilich auch nicht zwingend, weil im Bereich Drittmittelforschung und Stiftungsprofessuren nahezu alles, was geschieht, nicht nur legal, sondern sogar politisch erwünscht ist. Aber Kreiß unterscheidet sich mit seiner Kritik doch wesentlich von jenen Wissenschaftlern, die diese legale und gewünschte Einflussnahme der Wirtschaft kritiklos hinnehmen oder sogar vorantreiben.
Kreiß zeigt nach einer das Problem und die Begriffe klärenden Einleitung erst einmal an Beispielen aus der Tabak-, Chemie-, Pharma-, Gentechnik- und Zuckerindustrie die konkreten Gefahren auf, welchen wachsenden Einfluss die Industrie, vor allem die mächtigen Konzerne, allein durch ihr Eindringen in die Hochschulforschung, auf Schulen, Universitäten, Lehrer, Professoren, damit auch auf Ärzte, Patienten, Konsumenten, überhaupt auf die öffentliche Meinung, die Gesundheitspolitik und die Gesundheit von Menschen weltweit hat.
Mit seinen schonungslosen Schilderungen von Beispielfällen macht Kreiß unmissverständlich klar, und dies, ohne den von mir favorisierten Begriff „Wissenschaftskriminalität“ zu verwenden, dass Drittmittelforschung und Einrichtung von Stiftungsprofessuren, obwohl sie legal und politisch gewollt sind, zur, wie er es nennt, „Wissenschaftsinstrumentalisierung und Wissenschaftsmissbrauch“ (2) geradezu einladen und „für die Allgemeinheit sehr schädlich“ sein können. Was Kreiß für seine Beispielkapitel zusammengetragen hat, reicht vollkommen aus, den Zusammenhang von Wirtschafts- und Wissenschaftskriminalität als bewiesen zu betrachten, auch wenn er sich damit begnügt, ein Gericht zu zitieren, das die Tabakindustrie als „kriminelle Vereinigung“ (3) bezeichnet und einen Anwalt, der auf ihre Mafiastrukturen verwiesen hat.
Am Fall des gekauften Wissenschaftlers „Ragnar Rylander“ von der Universität Genf demonstriert Kreiß die unglaubliche Bandbreite des teils legalen, aber teils auch hochgradig kriminellen Zusammenwirkens der Krankheitsindustrie Tabakbranche mit der scheinbar unabhängigen Wissenschaft, die ihre Ungefährlichkeit beglaubigt. Und dennoch hat Kreiß die Ausmaße dieser Verbrechen, die bis in die Untiefen angeblicher Entwicklungshilfe hineinreichen, nicht voll ausgelotet. Ich verweise auf das 2004 bei Horlemann erschienene (von der EKD geförderte) Buch „Rauchopfer — Die tödlichen Strategien der Tabakmultis“ von Helmut Geist, Peter Heller und John Waluye.
Doch Kreiß hatte ja auch nicht vor, ein Buch über Wissenschaftskriminalität zu schreiben. Er wollte vielmehr auf der Grundlage der von ihm geschilderten Beispiele die „subtilen Formen der Einflussnahmen von Industriegeldern auf Hochschulforschung“ untersuchen, die in der Öffentlichkeit kaum bemerkt werden.
So gesehen, beginnt sein spezielles Thema erst ab Seite 82. Hier kommt er zunächst auf die Stiftungsprofessuren zu sprechen und berichtet über ein verlockendes Angebot an ihn selbst. Nach schlaflosen Nächten schlug er es aus. Sehr detailliert schildert er die mit einer solchen Professur unvermeidlich verbundenen Probleme, beschreibt die Selektions- und Rekrutierungskriterien, die Abhängigkeiten, die Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit und die zu Lasten dieser Freiheit abgeschlossenen Kooperationsverträge zwischen Unternehmen und Universitäten, zum Beispiel der Universität Köln mit dem Pharmakonzern Bayer HeathCare AG seit 2008.
Wenn er auf die Autoindustrie am Beispiel der Audi AG zu sprechen kommt, betont er ausdrücklich, dass es ihm nicht um die „Unregelmäßigkeiten oder Vorwürfe gegenüber Audi beziehungsweise dem Volkswagenkonzern“ geht, sondern darum, „wie Autokonzerne strukturell Einfluss auf Wissenschaft und Forschung an staatlichen Hochschulen ausüben“ (4). Und er betont:
„Selbst wenn die Einflussnahme völlig gesetzestreu, ohne jegliche Unregelmäßigkeiten, ohne Skandale abläuft, findet eine falsche, dem Allgemeininteresse zuwiderlaufende Weichenstellung statt“ (5).
Spätestens hier zeigt sich, dass Kreiß auch ein Buch für Eltern, Erzieher, Lehrer, Sozialpädagogen geschrieben hat. Die durch gekaufte Forschung mögliche Weichenstellung reicht nämlich weit über die konkreten Fragen der Produktion und den Verkauf hinaus.
Am Beispiel des „Deep Lobbying“ macht der Autor deutlich, dass die Einflussnahme durch Industriesponsoring auch Kindertagesstätten und Schulen einbezieht. Mit Hilfe von Unterrichtsmaterialien, die zugleich als Werbeträger dienen. Kindern und Jugendlichen wird „ein industriefreundliches, geld-, kapitalmarkt- und werbefreundliches Weltbild vermittelt“ (6). Es werden — klagt er — die üblichen neoliberalen Dogmen propagiert. Er geht auch weiter als jene Kritiker, die nur ein Werbeverbot an Schulen fordern. Er würde — sagt er freimütig — jede Form des Industriesponsoring an Schulen verbieten.
Drittmittel und Stiftungsprofessuren
Nein, Christian Kreiß ist kein Linker. Eher könnte man ihn als undogmatischen Sympathisanten des umstrittenen Anthroposophen Rudolf Steiner und des Freigeldvertreters Silvio Gesell sowie deren moderne Nachfolger bezeichnen, wie dem Aachener Ökonomen Helmut Creutz. Kreiß verweist aber nicht auf diese, sondern auf Bücher wie das 2011 von Richard Münch veröffentlichte mit dem Titel „Akademischer Kapitalismus“.
Er stimmt sogar dessen Kritik am Bologna-Prozess „vollumfänglich“ zu und empfiehlt, seine Studie, die sich auf das schon von Münch aufgegriffene Problem der Drittmittel und der Stiftungsprofessuren konzentriert, im Kontext mit diesem Reformprozess zu sehen, weil er auf diesen nicht weiter eingehen wolle (7). Kreiß vermeidet zwar eine direkte Kapitalismuskritik, aber nicht nur in diesem Buch, auch in seinen vielen öffentlichen Vorträgen und in zahlreichen Interviews finden sich zahlreiche Belege, die zeigen, dass es ein Fehler wäre, ihn in die Schublade jener blinden und beschränkten Verteidiger des Kapitalismus zu stecken, die nicht nur das Thema Wirtschafts- und Wissenschaftskriminalität systematisch ausblenden, totschweigen oder verharmlosen.
Dann müsste man ja auch die vielen erklärten Kapitalismusgegner als vielleicht noch beschränktere Kapitalismusverteidiger betrachten, die Probleme damit haben, sich mit Wirtschafts- und Wissenschaftskriminalität auseinanderzusetzen, weil sie den ganzen Kapitalismus für kriminell halten. Sie sagen, was ja nicht bestritten werden kann, der Kapitalismus sei auch ohne Wirtschaftskriminelle ein Verbrechen an Menschen und Natur, an Demokratien und Kultur. Aber sie vergessen, dass die Herren und Damen, die das System beherrschen, auch definieren, was kriminell ist und was nicht, was dem System schadet oder nützt. Deshalb steht eine solche Theorie einer erfolgreichen Praxis der Überwindung des Systems entgegen.
Wenn man — wie ich — davon ausgeht, dass Linke mit Recht den Faschismus, zumal in seiner deutschen Version, als ihren Hauptfeind betrachten, muss man zumindest die Hypothese prüfen, ob der Untergrundkapitalismus, die kriminelle beziehungsweise kriminalisierte Seite der Ökonomie, nicht die Basis dieses Faschismus ist.
Denn alles spricht doch dafür, dass der Untergrundkapitalismus bei Versagen des legalisierten Kapitalismus von den Sicherheitsorganen zur offiziellen Wirtschaftsordnung erklärt wird.
Demokratiefeindliche Teile der Geheimdienste, der Security Services der Konzerne und anderer subversiver Konterrevolutionäre — die jeden demokratisch legitimierten Eingriff des Staates oder der Kommunen in die Eigentumsrechte mächtiger Kapitalfürsten als kommunistische Politik oder Politik im Interesse von Kommunisten halten, arbeiten doch nicht so geheim, dass man sie völlig übersehen könnte. Was uns Christian Kreiß vor Augen führt, auch wenn er Wirtschafts- und Wissenschaftskriminalität nicht thematisiert, aber eben auch nicht leugnet, nicht verharmlost, ist folgendes: Man muss sich gar nicht gezielt mit der kriminellen Dimension des Systems der Profitmaximierung und den Problemen der kriminellen Ökonomie befassen, man darf sie nur nicht ausblenden.
Er setzt Wissen über diese Seite des Wirtschaftens offensichtlich voraus. Er zeigt, wie gefährlich es ist, von Leuten wie dem FDP-Chef Christian Lindner den Rat anzunehmen, die Lösung der großen und komplizierten Weltprobleme doch besser „Profis“ zu überlassen.
Sogenannte Profis
Wer „Gekaufte Forschung“ gelesen hat, weiß, dass FDP-Chefideologe Lindner der Letzte wäre, der einen Professor wie Christian Kreiß — der ja nicht irgendein linker Ideologe, sondern ausgewiesener Fachmann des Investmentbanking ist — als Profi anerkennen würde. Kreiß deckt nämlich bis in feinste Details auf, was Wirtschaftslobbyisten wie Lindner unter Profis verstehen. Es sind von Konzernen entsandte, von ausgewählten wirtschaftsnahen Gremien berufene, was aber heißt, handverlesene Experten, die sich — was nicht verboten, meist sogar politisch erwünscht ist — gegen beachtliche Summen in den Dienst der Konzerne stellen. Sie glauben oder versuchen glauben zu machen, dass dies auf die von der Verfassung garantierte Freiheit der Wissenschaft keinen oder nur positiven Einfluss hat.
Kreiß beweist materialreich, empirisch, dass Konzernstrategen als Profis allenfalls diejenigen anerkennen, die durch ihre bisherige wissenschaftliche Laufbahn, ihre Forschungsinteressen, Publikationen und politische Haltung hinreichend bewiesen haben, sich in ihrer Forschung und Lehre an den Bedürfnissen der hochprofessionellen Kapitalverwerter zu orientieren. Er behauptet nicht, dies ende in jedem Fall mit einem Schaden für Mensch und Natur, Demokratie und Kultur.
Denn auch unter wirtschaftsabhängigen Wissenschaftlern lassen sich viele finden, die nachweislich großartige, dem Allgemeinwohl förderliche Arbeit leisteten, Entdeckungen und Erfindungen machten und sich sogar weigerten, gentechnisch hergestellte oder andere eventuell oder tatsächlich gesundheitsgefährdende Produkte der Tabak-, Pharma-, Chemie- und Autokonzerne zu entwickeln oder ihnen als renommierte, scheinbar unabhängige Fachleute das Zertifikat „unbedenklich“ oder gar „gesundheitsfördernd“ auszustellen.
Christian Kreiß gehört nicht zu diesen Wissenschaftlern, obgleich sein Werdegang ihn erst einmal für eine prestigeträchtige Stiftungsprofessur, ja vielleicht sogar als potenziellen Mitstreiter der eurofeindlichen Wirtschaftsprofessoren Max Otte, Bernd Lucke, Hans-Olaf Henkel und Jörg Meuthen geeignet erscheinen lassen. Nach seinem Studium der Volkswirtschaft war er nämlich neun Jahre lang als Banker für verschiedene Geschäftsbanken tätig. Davon sieben Jahre — wie es aussieht, erfolgreich — im Investmentbanking. Nach einer solchen, in Wirtschaft und gehobener Gesellschaft bewunderten Berufsbiographie, hätten ihm fast alle Türen rechts des langen Weges nach oben offen gestanden. Doch muss er nach der Jahrtausendwende in eine Sinnkrise geraten sein. Vielleicht sah er, wie viele andere Insider auch, dass die extremen Strukturverwerfungen des Finanzsystems zu einem Kollaps führen würden.
Außenseiter des Finanzmarktes
Ein erfahrener Investmentbanker wie Kreiß konnte jedenfalls früher als andere erkennen, dass die Niedrigzinspolitik, die Deregulierung des Bankensektors, die zunehmende Macht der Schattenbanken Ausmaße angenommen hatten, die zu einer schweren Krise führen würden. Ab 2007 führten diese politisch gewollten Entwicklungen zur größten Weltwirtschaftskrise seit 1929. Kreiß hatte in München über „die Große Depression 1929 bis 1932“ promoviert und sich später mit den umstrittenen Problemlösungsansätzen von Geldtheoretikern wie dem Anthroposophen Rudolf Steiner befasst.
Auch mit dem Mitglied der anarchistischen Münchner Räte-Regierung Kurt Eisners, Sylvio Gesell, der die Freigeldwirtschaft als Lösung zur Überwindung der kapitalistischen Krisen- Schulden- und Zinswirtschaft entwickelte. In einem Aufsatz mit der Überschrift: „Alles nur Zufall? Die Auswirkungen der Finanzkrise auf Spanien“, (in: horizonte 37), verweist Kreiß erstmals auf den Aachener Freiwirtschaftler Helmut Creutz, einen zeitgenössischen Vertreter dieser Denkrichtung und beklagt, dass solche Außenseiter nicht die Beachtung fänden, die sie angesichts dieser Finanzmarktkrisen verdienen.
Die Freigeldbewegung — obwohl immer nur in ökonomischen Nischen erfolgreich — hat eine große Tradition. Kreiß zeigte bisher Sympathien für diese Denkrichtung. Ob er die nun von einem Weltkonzern angekündigte eigene Währung begrüßen würde, muss man, wenn man seine konzernkritische Einstellung richtig einschätzt, bezweifeln. Aber die Tendenz zur Abschaffung des Bargeldes, der Verbreitung der bargeldlosen Zahlung, auch angesichts des ständig wachsenden Anteils von Buchgeld im nationalen und internationalen Zahlungsverkehr sprechen dafür, dass die Einführung einer speziellen Freigeldwährung nicht mehr auszuschließen ist.
Was diese Entwicklung wahrscheinlicher, aber auch immer problematischer erscheinen lässt, dass ihre Protagonisten nicht mehr ein paar Spinner sind, nicht mehr irgendwelche Außenseiter. Inzwischen stehen auch Weltkonzerne wie Amazon dieser Idee positiv gegenüber.
Diese Nachricht wird schon seit längerer Zeit immer wieder von seriösen Medien verbreitet und von den in Betracht kommenden Großkonzernen nicht dementiert. Es könnte also zu einem unerwarteten Siegeszug der Idee einer Freilandwährung kommen, der auch Christian Kreiß vor die Frage stellt, ob dies, nachdem die Idee vom demokratiefreien Konzernkapital aufgegriffen wird und Wirklichkeit zu werden droht, noch als alternative Lösung der gigantischen Probleme des globalen Finanzkapitalismus und der Rettung der Marktwirtschaft vor ihren dem Monopolismus zuzuschreibenden Selbstzerstörungskräften in Frage kommt. An die Möglichkeit der Demokratisierung der Konzerne denkt er bisher nicht.
Anlässlich des 90. Geburtstags von Jürgen Habermas erinnerte kürzlich Arno Widmann in der Frankfurter Rundschau daran, dass der noch junge Habermas zusammen mit den Juristen Erhard Denninger und Ulrich K. Preuß die verfassungsrechtliche Begründung dafür lieferte, warum eine Hochschule in der Demokratie auch eine demokratische Hochschule sein müsse. Ich selbst habe mich deshalb von Anfang an für den damals gegründeten „Bund Demokratischer Wissenschaftler“ engagiert, wechselte gegen Ende meines Studiums wegen der Hochschuldemokratie sogar von der Frankfurter Schule zur Abendrothschule nach Marburg. Seitdem stehe ich in der von Abendroth begründeten wissenschaftskritischen Tradition und bin Mitglied des BdWi.
Es gelang damals, in die noch von Alt-Nazis durchsetzten Hochschulen eine breite demokratische Schneise zu schlagen. Doch muss man bei hinreichend akademischer Redlichkeit zugeben, dass die Unis, kaum vom 1000-jährigen Muff unter den Talaren der Traditionalisten und verkappten Faschisten befreit, nicht nur für ein paar Alibi-Marxisten offen standen, sondern auch für die von Konzernen unterstützten Kapital-Lobbyisten. Daher habe ich den Ansatz von Habermas als zu knapp bemessen empfunden. Ich habe seitdem — verständlicherweise mit weit weniger öffentlicher Anerkennung — viele verfassungsrechtliche Begründungen dafür geliefert, dass auch Konzerne in einer Demokratie demokratische Konzerne sein müssten.
Dass mit der Öffnung der Hochschulen für marxistische Professoren auch Konzerninteressen Einzug in die Gremien des inzwischen hochgradig wirtschaftsgesteuerten Wissenschaftsbetriebs hielten, hat Christian Kreiß in seinem Buch gründlich untersucht. Übrigens, wie er wissen lässt, mit Drittmitteln. Allerdings ohne vom Geldgeber gestellte Forderungen. Wer das Buch gelesen, seine kritischen Erkenntnisse auch unter demokratiepolitischen Aspekten begriffen und ausgeschöpft hat, glaubt es ungeprüft.
Die Frage bleibt, ob die schon seit langer Zeit nahezu unbemerkt und weithin unkritisiert betriebene Privatisierung der bisher staatlich kontrollierten, von Verfassungen als frei, als unabhängig von Staat und Wirtschaft deklarierten Wissenschaften sich von den übermächtigen Kapitaleinflüssen wieder befreien können.
Zumal die Rüstungsforschung, die Christian Kreiß leider nicht auf dem Schirm hat, auch an deutschen Universitäten an Bedeutung gewinnt. Allein die Drittmittel des Pentagon, die sogenannten Grants im Wert von 21,7 Millionen US-Dollar, die seit 2008 in verschiedenen Forschungsprogrammen an deutsche Forscher überwiesen wurden, lassen daran zweifeln (8).
Möglicherweise führt am Ende doch der einzig gangbare Weg über die Demokratisierung der Konzerne. Auch dieser Aspekt fehlt leider in diesem ansonsten äußerst wirtschaftskritischen Buch.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Christian Kreiß, Gekaufte Forschung — Wissenschaft im Dienst der Konzerne
Europa Verlag Berlin, 2015
(2) ebenda Seite 81
(3) ebenda Seite 35ff.
(4) ebenda Seite 124
(5) ebenda Seite 129
(6) ebenda Seite 140
(7) ebenda Seite 19
(8) Dies geht aus einer Datenbank mit US-Haushaltsdaten von 2008 bis
2019 hervor, die der SPIEGEL ausgewertet und veröffentlicht hat. Siehe: https://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/us-militaerforschung-an-deutschen-unis-21-millionen-dollar-in-zehn-jahren-a-1273282.html
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