von Hannes Hofbauer
Einen Einzelvorgang zu „framen“, ist ein beliebtes Mittel der Manipulation von Meinungen. Aber auch das Gegenteil gibt es: „Deframing“ — etwas aus dem Zusammenhang reißen. Bei der Beurteilung der derzeitigen Politik Russlands kommt es ganz darauf an, wie weit man den historischen Rahmen steckt, in dessen Kontext man die Lage einschätzt. Isoliert betrachtet, ist es böse, wenn ein größeres Land ein kleineres drangsaliert und versucht, Teile von dessen Staatsgebiet abzutrennen. Ein „aggressiver Akt“, geifert die aggressivste aller Weltmächte. Sieht man dagegen, wie sich die Weltgeschichte spätestens seit der „Wendezeit“ entwickelt hat, gewinnt man an Verständnis für die vermeintlich erratische Politik Putins. Es ist eine Geschichte des schrittweisen Zurückdrängens des russischen Einflusses, der wachsenden Umzingelung und Bedrängung des großen Landes durch den sich als siegreich gerierenden Westen.
Historiker wissen Bescheid. Es kommt darauf an, wann und wo
Doch der Reihe nach. Wer die Geschichte der Ukraine-Krise mit dem Aufmarsch der russischen Armee und der Erklärung Putins zur Anerkennung der Selbstständigkeit von Donezk und Lugansk beginnen lässt, kann mit Fug und Recht behaupten, dass dieser Schritt ein Bruch des Minsker Abkommens und des Völkerrechts war. Immerhin garantiert das Abkommen „Minsk II“ vom 12. Februar 2015, das Frankreich, Deutschland, die Ukraine und Russland ausverhandelten, die territoriale Integrität der Ukraine; und diese wurde mit Putins Erklärung eindeutig verletzt.
Gleichzeitig hatte man allerdings im Minsker 13-Punkte-Katalog eine Verfassungsreform des Landes vereinbart, deren Kern eine Föderalisierung mit weitgehender lokaler Selbstverwaltung der beiden ostukrainischen Oblaste bildete. Sieben Jahre lang ist dazu kein einziger Schritt von Seiten Kiews unternommen worden.
Wenn wir also die Geschichte der Ukraine-Krise mit dem 12. Februar 2015 anstatt mit dem 21. Februar 2022 beginnen lassen, stellt sich die Lage ganz anders dar. In dieser Perspektive ist es die Regierung in Kiew, die das Minsker Abkommen gebrochen hat; ganz abgesehen von jahrelangen militärischen Provokationen an der Waffenstillstandslinie durch reguläre und irreguläre ukrainische Einheiten sowie der Weigerung, soziale und wirtschaftliche Verbindungen zwischen der Kernukraine und den abtrünnigen Gebieten wieder herzustellen, wie es in Punkt 12 des Abkommens definiert ist.
Noch eine kompaktere Einschätzung ergibt sich für jemanden, der die Geschichte am 28./29. November 2013 beginnen lässt. Damals trafen sich die Granden der 28 EU-Staaten mit Vertretern von sechs ex-sowjetischen Republiken zu einem Gipfel im litauischen Vilnius. Brüssel hatte für vier Länder — Moldawien, Georgien, Armenien und die Ukraine — sogenannte Assoziierungsabkommen vorbereitet. Diese sollten das wirtschaftliche und politische Einflussgebiet der Europäischen Union nach Osten erweitern, ohne den jeweiligen Staaten eine EU-Mitgliedschaft anzubieten. Auch eine militärische Absicherung dieses „Drangs nach Osten“ war vorgesehen.
Im Vorfeld war allerdings bereits Armenien ausgeschieden, nachdem russische Sonderemissäre Jerewan überzeugt hatten, dass ein Bruch mit Moskau für das kleine Land nicht nur energiepolitisch verheerende Folgen hätte. Am Vilnius-Gipfel selbst lehnte dann der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch aus ähnlichen Gründen das Angebot auf EU-Assoziation ab.
Doch anstatt diese Ablehnung ernst zu nehmen, begann Brüssel, auf einen Regimewechsel in Kiew zu setzen. Mit den Protesten von Jugendlichen am Majdan von Kiew war bald auch ein Hebel gefunden, den man dazu nutzen konnte.
Dass rechte westukrainische Kader die studentische Unzufriedenheit bald mit nationalistischen Parolen würzten und später das Terrain am Majdan übernahmen, kam den Außenpolitikern der EU wie zum Beispiel dem damaligen deutschen Außenminister Guido Westerwelle nicht ungelegen.
Gemeinsam stürzte man im Februar 2014 die gewählte ukrainische Regierung und jagte den Präsidenten außer Landes. Dieser klare Bruch der ukrainischen Verfassung kümmerte in Brüssel, Berlin oder Washington niemanden unter den politisch Verantwortlichen. Im Anschluss daran zerfiel die Ukraine: die zwei sezessionistischen Oblaste Donezk und Lugansk erklärten sich für selbstständig und die Krim schloss sich der russischen Föderation an. Von dieser historischen Warte aus gesehen, muss die treibende Kraft für die ukrainische Desintegration der Europäischen Union zugeschrieben werden.
Aber wir können und müssen die Geschichte der Ukraine-Krise noch früher beginnen lassen; und zwar am 15. März 1999. Damals trafen sich im Pariser Kongresszentrum in der rue Kléber Vertreter der USA, der EU, Russlands, Jugoslawiens und der Kosovoalbaner, um einen Vertrag zur Lösung der Kosovo-Frage abzuschließen. Eine Einigung konnte nicht gefunden werden. Die russische und die jugoslawische Seite stimmten der von Washington und Berlin beabsichtigten militärischen Kontrolle Jugoslawiens durch die NATO nicht zu.
Zwei Tage später stellte die Nordatlantik-Allianz ein Ultimatum an Belgrad und am 24. März 1999 begann die mittlerweile auf 19 Mitglieder angewachsene NATO mit dem Bombardement serbischer Städte und Einrichtungen, das 78 Tage dauern sollte.
Der Angriff erfolgte völkerrechtswidrig ohne UN-Mandat und stellte einen Präzedenzfall der europäischen Nachkriegsgeschichte dar, die seither auch so nicht mehr genannt werden kann. Kosovo wurde aus dem Staatsverband Jugoslawiens herausgebombt. Wer also die Geschichte der Ukraine-Krise im März 1999 beginnen lässt, muss daran erinnern, dass militärisch abgesicherte Grenzverschiebungen ohne Einwilligung der sie betreffenden Staaten nicht in Moskau erfunden, sondern zuvor von Washington betrieben wurden.
Noch ein Nachsatz zum Präzedenzfall Kosovo: Sanktionen gegen Staaten der NATO-Kriegsallianz von Seiten Russlands, Chinas oder neutraler Länder hat es damals nicht gegeben, ja sie wurden nicht einmal diskutiert.
Von Hannes Hofbauer ist zum Thema im Promedia Verlag erschienen: „Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung“
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Der Artikel ist erschienen bei :Rubikon-News
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