Thema:
Ära Merkel
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Die Ära Merkel geht zu Ende. Zum Glück, denn sie steht für den sinnentleerten Machterhalt einer Monarchin. Während ihrer Kanzlerscaft konnte sie kaum Zeichen setzen. Herrscherliche Autorität ist keine Zeitfrage, sondern der Spiegel, worin das Volk sofort seinen Leitwolf erkennt, nach dessen Stab es zu springen und zu tanzen lernt.
Allmählich erwachen die deutsche Politik und ihre Öffentlichkeit aus ihrer postdemokratischen Narkose. Merkels basale Herrschaftstechnik bestand bekanntlich darin, statt Wähler für eigene Ziele zu mobilisieren, den Wählern anderer Parteien die Gründe zu nehmen, zur Wahl zu gehen – durch so unauffällig wie möglich gehaltene Bekenntnisse zum eigenen Programm bei angedeutetem Verständnis für die Programme der Konkurrenz. „Man kann das im Soziologendeutsch asymmetrische Demobilisierung nennen“, so der arme Schulz laut »Spiegel« im Juni in einer Strategiesitzung: „Ich nenne es Aushöhlung der Demokratie ... Die sinkende Wahlbeteiligung vorsätzlich in Kauf zu nehmen ist ein Anschlag auf die Demokratie.“
Dieser Satz geriet in eine Parteitagsrede, woraufhin die Öffentlichkeit befand, dass es dem SPD-Kandidaten an gutem Benehmen fehle. Merkel, in Höchstform, ließ wissen, „dass sie Herrn Schulz ganz anders kennengelernt habe, Schwamm drüber“, und im sogenannten „TV-Duell“ bat Schulz sie dann um Entschuldigung. Sie wurde gewährt.
"Regieren ist die Kunst, Probleme zu schaffen,
mit deren Lösung man das Volk in Atem hält."
Ezra Pound
Die Methode der asymmetrischen Demobilisierung verschaffte Merkel eine für demokratische Verhältnisse unvorstellbare taktische Bewegungsfreiheit, die sie für immer neue Kehrtwendungen in Richtung der linken Mitte nutzte, um ihr Repertoire künftiger Koalitionsmöglichkeiten auszubauen. Dabei kam ihr lange die Strauß’sche Hinterlassenschaft zugute, dass es „rechts von der Union“ keine Partei gab, zu der enttäuschte Wähler oder Parteifunktionäre hätten wechseln können; für sie war Merkel alles, was sie hatten.
Diejenigen, deren Positionen Merkel eingemeindete, hüteten sich ohnehin, ihr Fragen zu stellen, weil sie in Merkels Lager keine schlafenden Hunde wecken wollten. So konnte Merkel sich immer wieder umorientieren, von einer unpolitisch gewordenen liberalen Öffentlichkeit wohlgefällig als individueller Bildungsroman rezipiert, ohne dass sie jemals zu so etwas wie einer „großen Rede“ gezwungen gewesen wäre. Tatsächlich blieb sie als Person für die Insider der politischen Klasse bis heute ein Rätsel; dass sie sich nicht scheute, einen Wahlkampf mit dem Slogan „Sie kennen mich“ zu führen, dürfte ihr deren professionellen Respekt eingetragen haben, wohl auch weil man dahinter jene Art von Humor vermuten konnte, der in diesen Kreisen zur Kultur gehört.
Die Liste der Merkel’schen Politikwechsel ist lang. Bis zu ihrem beinah verlorenen ersten Bundestagswahlkampf hatte die CDU-Vorsitzende eine neoliberale Grundrevision der deutschen Gesellschaft proklamiert, gegen die Schröders „Agenda 2010“ ein Klacks war. Im Amt begann sie dann umgehend mit der „Sozialdemokratisierung“ ihrer Partei, ohne dass jemand wissen wollte, was sie in so kurzer Zeit dazugelernt hatte.
Als „Atomkanzlerin“, ausgestattet mit dem „Sachverstand der Physikerin“, setzte Merkel zugleich alles daran, den von Sozialdemokraten und Grünen ausgehandelten Atomausstieg schnellstens rückgängig zu machen. Nachdem dann aber die Bilder aus Fukushima in die Öffentlichkeit gelangt waren, verlangte derselbe technische und wirtschaftliche Sachverstand nach einer umso rascheren Abschaltung der deutschen Atommeiler. Eine Erklärung, wie sich das vorher so gewissenhaft berechnete Restrisiko in ein paar Tagen so dramatisch geändert haben konnte und warum man einem so fehlbaren Sachverstand weiterhin vertrauen solle, wurde nicht verlangt.
„Alle aufnehmen, das können auch wir nicht schaffen“, hatte Merkel dem Flüchtlingsmädchen Reem vor laufenden Kameras erklärt und war dafür im Internet zur „Ice Queen“ erklärt worden. Schon kurz danach hieß es bei Anne Will „Wir schaffen das“, bis ein paar Monate später sich „nicht wiederholen“ durfte, was soeben noch menschenrechtlich und christlich geboten und technisch ohnehin nicht zu verhindern gewesen war. Und sobald die „Ehe für alle“ drohte die nächste Koalitionsbildung zu erschweren, verwandelte sie sich von einer politischen in eine Gewissensfrage.
Plötzliche Politikwechsel belasten den Vertrauenshaushalt eines Staates und bedürfen deshalb besonderer Rechtfertigung. Indem sie auf einer solchen bestehen, sorgen eine kritische Öffentlichkeit und eine aggressive parlamentarische Opposition für die Wiederherstellung von Systemvertrauen. Bleibt diese aus, muss die Notwendigkeit des Politikwechsels nachträglich durch Personalwechsel – Rücktritt, Putsch, Neuwahl – beglaubigt werden. Nicht so im System Merkel, wo die postdemokratische Reduzierung von Strategie auf Taktik von einer politischen Klasse, die ihre Regierungsfunktion an den globalen Markt und die europäische Technokratie abgetreten hat, als hohe Kunst politischer Herrschaftssicherung kennerisch bewundert wird.
Polarisierung
Seit einiger Zeit nimmt die Wahlbeteiligung in den westlichen Postdemokratien wieder zu. Ursache ist das Auftreten neuer „populistischer“ Parteien rechts und links, vor allem rechts, deren Anhänger gegen asymmetrische Demobilisierung immun sind. Diese war deshalb durch asymmetrische Polarisierung zu ergänzen. 1976, auf dem Zenit der Nachkriegsdemokratie, hatte die CDU die Grenze links gezogen, „Freiheit statt Sozialismus“ plakatiert und sich damit Diskussionen eingehandelt: Sind das wirklich Gegensätze? Sind Brandt und Schmidt Freiheitsfeinde? So ging die Wahl verloren. Merkels CDU dagegen, aus Schaden klug geworden, polarisierte in die entgegengesetzte Richtung, mit „Mitte statt rechts“ als virtuellem Slogan. Anders als in den alternativengesättigten Siebzigern ergab das eine Art Demokratischen Block aller anständigen Parteien und Massenorganisationen, unter Einschluss der SPD und der Opposition im Bundestag.
„Mitte statt rechts“ opferte das Strauß’sche Erbe, indem es die Repräsentation des rechten Randes der Wählerschaft einer neuen, mit der Union konkurrierenden Partei überließ – in Gestalt der AfD, ursprünglich eine elitär-bürgerliche neoliberale Kleinpartei, deren Marsch in den „Rechtspopulismus“ dadurch beschleunigt wurde. Für Ausgleich sollte eine umfassende Mobilisierung von Politik und Gesellschaft zur Ausschließung der populistisch gewendeten AfD aus dem demokratischen Verfassungsspektrum sorgen, unter Anrufung der antinationalsozialistischen Staatsraison des Landes.
So konnte die AfD als Vogelscheuche zum Zweck der politischen Disziplinierung einer neuen, 90-prozentigen gesellschaftlichen Großmitte dienen – indem kritische Themen wie die Zukunft der Nationalstaaten in der Europäischen Union, der Aus- und Umbau der Währungsunion und die ungeregelte Einwanderung als Lehrstück über die Grenzenlosigkeit der Marktgesellschaft zu AfD-Themen erklärt wurden, über die man nicht sprechen durfte, wollte man dem „rechten Populismus“ nicht „Vorschub leisten“.
In der Tat war der regierungsamtliche „Kampf gegen rechts“ zunächst spektakulär erfolgreich. In den Reihen der CDU galt es nun noch mehr als vorher, Zweifel an der deutschen Europa- und Einwanderungspolitik zu unterdrücken. Und als der SPD-Vorsitzende angesichts der absehbaren Aufwendungen für die Einwanderer Maßnahmen auch für die eingesessene Unterschicht vorschlug, wurde er von Merkel und Schäuble öffentlich des Vorschubleistens bezichtigt und verstummte – aus Angst davor, so Gabriel knapp zwei Monate nach der Wahl, „mit der CSU oder der politischen Rechten in einen Topf geworfen zu werden“.
Im weiteren Umkreis des offiziellen Antifaschismus begannen Presse, Rundfunk und Fernsehen, Schulen, Volkshochschulen und Universitäten, Jugendverbände, Kulturschaffende und Kleriker aller Art eine landesweite Immunisierungskampagne gegen die AfD. In Köln forderten Oberbürgermeisterin und Kardinal zusammen mit Karnevalsvereinen und Rockgruppen dazu auf, sich durch eine Demonstration gegen die Abhaltung eines Parteitags der AfD in einem Kölner Hotel „für Toleranz“ einzusetzen – beide Kirchen unter dem für ihre historischen Verhältnisse durchaus riskanten Slogan „Unser Kreuz hat keine Haken“.
Auch an den deutschen Grenzen machte der Antifaschismus der breiten Mitte, „proeuropäisch“ wie er sich verstand, nicht halt. Bei Wahlen und Abstimmungen im Ausland wusste die deutsche Öffentlichkeitsmaschine genau, wie diese auszugehen hatten, und tat dies unmissverständlich kund. Ab November 2016 konnte dann Donald Trump als Erzfeind aller Menschen guten Willens als Begründung herhalten, warum in Österreich der Kandidat der Grünen unbedingt Bundespräsident werden musste. Für Frankreich feierte der SPD-Vorsitzende, zusammen mit dem Philosophen Jürgen Habermas, unter dem Eindruck der antieuropäischen Gefahr den Banker Macron als legitimen Sohn der deutschen Sozialdemokratie und langersehnten Überwinder der unseligen französischen Spaltung zwischen links und rechts.
Die Monarchin
Auf dem Gipfel ihrer Macht, getragen von der „Willkommenskultur“ und einer so angsterzeugten wie -verbreitenden Gleichschaltungsbereitschaft der politischen Klasse, regierte Merkel wie eine Monarchin. Wenn man in Deutschland „kein freundliches Gesicht mehr zeigen“ dürfe, so in einem Interview während ihrer „Flüchtlingskrise“, „dann ist das nicht mehr mein Land“. Niemand fragte, wie das gemeint war, auch nicht, als die Regierungschefin eines säkularen Staates „mit Kardinal Marx“ wissen ließ: „Der Herrgott hat uns diese Aufgabe jetzt auf den Tisch gelegt.“ Wenn Demonstranten, vor allem im Osten, Kundgebungen der Kanzlerin mit „Merkel muss weg“-Sprechchören störten, gab es rundum Bekundungen von Scham und Abscheu. Als rechtsradikale Hetze gar galt, wie dezent auch immer nach der politischen Verantwortung für Gewaltverbrechen von Migranten zu fragen, die unter normalen Bedingungen nicht hätten über die Landesgrenze gelangen können; gewählte Politiker mussten schon aus minderem Anlass zurücktreten.
In der substanzentleerten und deshalb sentimentalisierungsbedürftigen deutschen Postdemokratie dagegen konnte Merkel für ihre Grenzöffnung den Sonderstatus einer „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“-Entscheidung beanspruchen, ohne dass es dazu irgendwelcher rhetorischer Großleistungen bedurft hätte: „Ich gehöre nur zu denen, die sagen: Wenn so eine Aufgabe sich stellt und wenn es jetzt unsere Aufgabe ist , . .. dann hat es keinen Sinn zu hadern, sondern dann muss ich anpacken und muss natürlich versuchen, auch faire Verteilung in Europa zu haben und Flüchtlingsursachen zu bekämpfen. Aber mich jetzt wegzuducken und damit zu hadern, das ist nicht mein Angang.“
Wer sich dennoch auf die Suche nach normalpolitischen, also verantwortungspflichtigen Motiven begab, lief Gefahr, in dieser Zeitung noch ein Jahr nach dem Ereignis der „Küchenpsychologie“ geziehen und, da „vom Insiderwissen ausgeschlossen“, an „eine künftige Forschung aus Akten und Zeugenbefragung“ verwiesen zu werden: „Die ganze Meckerei wirkt hilflos, lächerlich und misogyn – denn auf die Kanzlerin kommt es an“ (F.A.Z. vom 16. September 2016) – eine für die Hochzeit der Ära Merkel nicht untypische Interpretation der Rolle des politischen Journalisten als Panegyriker.
Wahr ist, dass „Küchenpsychologie“ zur Erklärung des Systems Merkel nicht viel beiträgt. Die Kehrtwendungen der Kanzlerin lassen auf ein extrem niedriges persönliches Konsistenzbedürfnis gegenüber anderen und sich selbst schließen, allerdings auch auf einen extrem konsistenten Willen zur Macht. Küchensoziologie führt da schon weiter, indem sie an Merkels Einstieg am oberen Ende der neuen Berliner Republik erinnert, als Protegé von Kohl im Kabinett und dann an der Spitze des CDU-Parteiapparats.
Politik als Bewegung von unten nach oben hatte es schon in der DDR nicht gegeben, jedenfalls nicht mit Merkel. Abgeordnete war Merkel immer nur nebenbei, nie Bürgermeisterin oder Ministerpräsidentin; dem unangenehm heißen Atem eines physisch präsenten, nach Vertretung verlangenden „Volkes“ – ein Begriff, der in der Ära Merkel in den Geruch des Rechtsradikalismus geriet – war sie nie ausgesetzt.
Merkels Apparatperspektive passte im Übrigen nahtlos zu dem alten Misstrauen westdeutscher Demokraten gegen einen unkontrolliert artikulierten Volkswillen, das schon die bundesrepublikanische Nachkriegsverfassung geprägt hatte. Brechts Diktum, dass „das Volk“ nicht „tümlich“ sei, war spätestens seit den 1990er Jahren auch auf der Linken nicht mehr Konsens. Als kosmopolitische Philosophen und liberale Politikwissenschaftler unter dem Eindruck der „populistischen“ Revolte endgültig das Vertrauen in die politische Weisheit der unteren Schichten verloren und darüber nachzudenken begannen, ob Demokratie als Massendemokratie überhaupt noch zeitgemäß sei, war der Schulterschluss zwischen Merkel und dem linksliberalen Mainstream perfekt.
Spätere Historiker werden versuchen müssen, das System Merkel auf seinem Höhepunkt als ebenso regierungsseitigen wie selbstauferlegten Dauertest einer demokratischen Öffentlichkeit auf ihre Fähigkeit und Bereitschaft hin zu beschreiben, unter laufender Opferung ihres Intellekts immer neue Absurditäten zu glauben oder wider besseres Wissen zu bekennen – etwa die Behauptung der Regierungschefin, man könne Grenzen heutzutage nicht mehr schließen, oder die Versicherung eines Journalisten im Deutschlandfunk nach den Pariser Anschlägen, dass sich unter den Flüchtlingen, die damals noch nicht „Geflüchtete“ hießen, keine Terroristen befinden könnten, da die Flüchtlinge ja vor diesen geflohen seien.
Niemand fragte, wo jene von Habermas so treffend bezeichnete „Nervosität der Intellektuellen“ geblieben war, die sich doch immer dann kräftig rühren müsste, wenn eine Öffentlichkeit wie ein Tanzbär am Nasenring regierungsamtlicher Wahrheiten durch die Manege gezogen wird und sich ziehen lässt. Nirgendwo im heutigen Westeuropa, nicht in Frankreich, nicht in Großbritannien, nicht in Italien, wäre es vorstellbar, dass „alle verantwortlichen Kräfte“ bei Strafe des Ausschlusses aus der öffentlichen Kommunikation verlangen würden, offenkundigen Unsinn wie den zu bekennen oder doch unwidersprochen zu lassen, dass eine Million unkontrollierter Immigranten als jährlicher Normalfall zu „schaffen“ sei. Dass diese Art von Dressurakt zeitweise im demokratischen Deutschland funktionieren konnte, könnte in einigen Jahren die wichtigste Erinnerung an die Ära Merkel sein.
Man weiß nicht, wie überrascht Merkel war, als im September 2015 das ganze Ausmaß der von der technokratischen Entdemokratisierung der Politik bewirkten Veränderungen des öffentlichen Bewusstseins und der mit ihm einhergehenden öffentlichen Gehorsams- und Unterwerfungsbereitschaft sichtbar wurde. Die Öffnung der deutschen Grenze für die auf der Balkanroute anreisenden Migranten war offenbar auf ein rapide gewachsenes Bedürfnis nach charismatischer Personalisierung und Sentimentalisierung des Politischen getroffen. Kaum jemand wollte sich dem Wunsch widersetzen, bei einer mit alltäglichen Maßstäben nicht zu messenden persönlichen Großtat dabei gewesen zu sein – nicht einmal die kleine Gruppe deutscher Staatsrechtslehrer, die sich auf ihren Lehrstühlen sicher genug fühlte, um öffentlich als Merkel-Kritiker in Erscheinung zu treten.
Zur Erklärung der von ihnen als Rechtsbruch klassifizierten Entgrenzungspolitik fiel ihnen, vielleicht weil sie als Juristen von roher Politik wenig verstehen, nichts Besseres ein als Max Webers handlungstheoretischer Idealtyp der „Gesinnungsethik“. Forderungen wie ihre allerdings, dass Politik „verantwortungsethisch“ handeln müsse, also unter Berücksichtigung ihrer absehbaren Folgen in der wirklichen Welt, erscheinen als naiv, wenn man „Angela Merkels Flüchtlingspolitik“ mit dem Ockham’schen Rasiermesser auf Normalgröße herunterschneidet und um der theoretischen Sparsamkeit willen heuristisch davon ausgeht, dass auch hier auf bezweckte Zwecke hin gehandelt wurde, allerdings auf andere als die erklärten, und am Ende wohl auch falsch berechnet.
Schwierig wäre dies nicht gewesen: Das PR- und Netz-Desaster mit Reem, die x-te Weigerung der CDU, ein Einwanderungsgesetz auf den Weg zu bringen, die Verärgerung der Obama-Regierung über die militärische Abstinenz der Deutschen in Syrien und das nach abermaliger Abkanzelung Griechenlands auf einen Tiefpunkt gesunkene internationale Ansehen (Merkel und Schäuble europaweit mit Hakenkreuzen dekoriert) waren Gründe genug, ein „freundliches Gesicht“ zu zeigen.
Mittlerweile weiß man aus dem Buch von Robin Alexander, dass die Grenzöffnung ursprünglich nur eine Woche dauern sollte; ihre Beendigung erschien dann aber wegen der überwältigend ausgebrochenen Willkommenseuphorie innenpolitisch riskant und musste deshalb funktional äquivalent auf die europäische Ebene verlagert werden, mit Erdogan als Ersatz für Orbán.
Was folgte, war politics as usual, angeleitet von demoskopischen Gewinn-und-Verlust-Rechnungen, die den kühnen Versuch nahelegten, sich gleichermaßen für wie gegen offene Grenzen zu positionieren. Jeder Reporter, der sein Geld wert gewesen wäre, hätte das recherchieren können; es passte aber nicht in die Stimmungslandschaft. So dauerte es bis lange nach der Kölner Silvesterparty, bis diejenigen, die sich im Herbst 2015 zu einer Einheitsmedienlandschaft zusammengefunden hatten, die bei Strafe moralische Exkommunikation nicht so genannt werden durfte, sich für ihre eigen- oder auch fremdwillige Deutung der Aufgaben ihres „vierten Standes“ zu entschuldigen begannen.
Das von den deutschen Ereignissen befremdete Ausland konnte sich diese, auch wegen des Ausbleibens einer kritischen Diskussion in Deutschland selbst, nur als Versuch erklären, das deutsche Image in der Welt zu verbessern, wenn nicht direkt als Ausfluss eines inneren Bedürfnisses, für den deutschen Völkermord Buße zu tun. Dass auch in Deutschland, teilweise ermutigt durch die Reaktionen im Ausland, die unbegrenzte Immigrantenaufnahme als Methode und Ausweis moralischer Selbstrehabilitierung empfunden wurde, durch dessen Kritik man sich außerhalb der Gemeinschaft stellte, kann dem gut ausgebauten Meinungsforschungsapparat der Regierung nicht entgangen sein.
Merkel jedenfalls ließ sich die Deutung der deutschen Entgrenzung als Abgeltung deutscher Schuld – weit entfernt davon, ihr erschrocken zu widersprechen – als Hilfe bei der Festigung ihres innenpolitischen Großblocks gerne gefallen. Die Genugtuung war groß, als „Time Magazine“ sie Ende 2015 zur „Person of the Year“ und „Kanzlerin der Freien Welt“ kürte („Die Pfarrerstochter setzte Barmherzigkeit ein wie eine Waffe“), die Grenzöffnung als „Abzahlung“ auf die deutsche „Nazi-Vergangenheit“ einordnete und bemerkte, dass man nur selten Gelegenheit habe, „eine politische Führungsfigur beim Abwerfen einer alten und quälenden nationalen Identität“ zu beobachten.
Als kurze Zeit darauf, bei der jährlichen Begehung des Auschwitz-Gedenktags in Deutschen Bundestag – die Verhandlungen mit Erdogan waren bereits im Gang –, die Rednerin, eine Überlebende des deutschen Massenmords, am Schluss ihres Vortrags erklärte, „dieses Land, das vor achtzig Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich war“, habe „heute den Beifall der Welt gewonnen, dank seiner geöffneten Grenze“, erhob sich das Plenum, das bis dahin, vermutlich doch wohl betroffen, geschwiegen hatte, und applaudierte ebenfalls: Der Rednerin? Der Kanzlerin? Sich selbst?
So war Opposition gegen Merkels Breites Bündnis schon bald nicht nur „rechts“, sondern ein Rückfall in den Nationalsozialismus und rassistisch – Antifa als politische Bazooka, auch in weniger sektiererischen Kontexten als dem „Neuen Deutschland“, wo der gerade zum Vorsitzenden einer neuen Kleinpartei aufgestiegene Soziologe Stephan Lessenich unter Übernahme der altehrwürdigen Technik der Namensverhunzung dekretierte, man müsse „beginnen zu glauben, dass auch all die Wagentaines und Lafonknechts in der LINKEN und um die LINKE herum nicht (einfach nur) sauer sind, sondern Rassisten“. Es reichte, zu denken, dass die Politik der offenen Grenze weder politisch noch wirtschaftlich, noch auch nur humanitär „nachhaltig“ sein konnte, um sich nur noch von der aus dem Verfassungsbogen herausdefinierten AfD und, vielleicht, der wegen ihrer Allianz mit Merkel allerdings unglaubwürdigen Seehofer-CSU öffentlich vertreten zu finden. So schmerzhaft dies für manchen gewesen sein mag, so förderlich war es für die AfD als Partei.
Das Ende
Im Rückblick sind die enormen Kosten erkennbar, die Angela Merkel und ihr Breites Bündnis der deutschen Politik hinterlassen haben. Auch eine Virtuosin wie die Kanzlerin war am Ende nicht dagegen gefeit, den Bogen zu überspannen. Politik, noch so gekonnt von Bild zu Bild, Stimmung zu Stimmung und Bündnis zu Bündnis gewendet, hat eben, anders als in der postdemokratischen Utopie, auch andere als nur machttechnische Folgen. Merkels germanozentrische „Flüchtlingspolitik“, ohne Vorwarnung der Partnerländer überfallartig ins Werk gesetzt, hat den Ausgang des Brexit-Referendums mitverursacht und die Ablehnungsfront der Ostländer konsolidiert und durch Österreich verstärkt. Auch werden sich die den Südländern und Frankreich opportunistisch von Fall zu Fall gemachten „proeuropäischen“ Versprechungen mit der FDP in der Regierung und der AfD im Parlament nicht einlösen lassen. Die als Folge ins Haus stehenden Krisen wird selbst die willigste Medienmaschine nicht mehr überblenden können.
Aber auch innenpolitisch ist die Messe gelesen. Dass die SPD, die sich weder für noch gegen „Angela Merkels Flüchtlingspolitik“ erklären wollte, deren Gegnern als Befürworter und deren Befürwortern als Gegner erschien und dadurch „rechts“ wie „links“ Stimmen verlor, hätte Merkel normalerweise stille Genugtuung bereiten können – wenn die Verluste nicht so hoch gewesen wären, dass die Partei sich aus Merkels Koalitionsportfolio verabschieden musste. Schlimmer noch, der regierungsamtliche Antifaschismus vermochte die auf die Mitte zielende Ablehnung einer „Obergrenze“ nicht auf Dauer nach rechts abzusichern.
Während links das Versprechen, 2015 werde „sich nicht wiederholen“, noch einmal als legitimes Tarnmanöver gegenüber einem unheilbar xenophoben Wahlvolk approbiert wurde, reichte es rechts nicht mehr aus, die nach links gerichtete Beteuerung zu neutralisieren, man habe alles richtig gemacht. Am Ende hatte Merkel die Bereitschaft der rechten Mitte zur Hinnahme kognitiver Dissonanzen ebenso überschätzt wie die Fähigkeit ihres „breiten Bündnisses“ zur wahlpolitischen Ausbürgerung der neuen Konkurrenz.
Diese ist nun im Bundestag, als bleibende Hinterlassenschaft der Ära Merkel, wo sie die bis dahin als AfD-Fragen unbehandelt gelassenen Themen bohrend zur Sprache bringen kann, vorausgesetzt, dass eine neue Geschäftsordnung dies nicht verhindert und sie selbst lernt, halbwegs diszipliniert aufzutreten. Dabei speist sich die Existenz der AfD als Partei mehr als erwartet aus der Substanz von CDU und CSU. Um die Blutung zu stoppen, hatte Merkel die wichtigste moralische Ressource des Landes, das Erschrecken vor seinen historischen Verbrechen, ebenso bedenken- wie letztlich erfolglos eingesetzt – verbraucht zu Zwecken politischer Machterhaltung um den Preis einer Trivialisierung von Faschismus und Rassismus.
Es ist fraglich, wie erneuerbar diese Ressource sein kann, wenn denen, die in vorgespielter Vergangenheitsvergessenheit mit Reizworten aus dem alt-rechten Vokabular auf Stimmenfang gehen, weiterhin Gelegenheit gegeben wird, sich nicht zu Unrecht als die Einzigen zu präsentieren, die die Krisen moderner Staatlichkeit im Zeitalter neoliberaler Globalisierung zur politischen Sprache bringen.
Angela Merkel könnte das egal sein, besonders wenn die SPD-Führung sich erholen und ihr den absehbaren Ärger mit Jamaika ersparen würde. Unter den Abgeordneten der Unionsparteien aber dürfte sich schon jetzt eine hinreichend große Zahl finden, die bei einer abermaligen Kanzlerkandidatur Merkels in vier Jahren um ihre Wiederwahl fürchten müssten, zumal eine weitere Vergrößerung des Bundestags beim besten Willen nicht „darstellbar“ wäre. Sie werden verlangen, dass in der Mitte der Legislaturperiode der Hof übergeben wird. Spätestens dann könnte es wieder Politik geben in Deutschland.
Wolfgang Streeck, Jahrgang 1946, ist Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Zuletzt erschien bei Suhrkamp „Die gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ (2015).
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