Der Biologe Clemens Arvay, der den Freitod gewählt hat, zeigte in der politischen Auseinandersetzung eine Fairness und Sachlichkeit, die seinen Gegnern leider nicht eigen war.
von Dietrich Klein
Niemand wird je mit Sicherheit sagen können, was in Clemens Arvay in den Stunden und Tagen vor seinem Tod genau vorging. Wer ihn aber relativ gut kannte, wie der Autor, kann plausible Hypothesen darüber anstellen. Arvay war kein typischer Kämpfertyp, eher ein feinsinniger Wissenschaftler, Künstler und Naturfreund, der sich nicht ohne Grund gern vor den Menschen zurückzog. Er glaubte an die heilsame Wirkung sachlicher Auseinandersetzung und gewaltfreier Kommunikation. Sein Unglück war, dass die Feinde, die er durch seine kritische Haltung in der Gesellschaftskrise der letzten Jahre auf sich gezogen hatte, dies ganz anders sahen. Die wollten ja nicht verstehen und einen Diskurs führen, sondern verletzen und diffamieren, um einen Gegner mundtot — zumindest in der Öffentlichkeit unmöglich zu machen. Die gemeinsame Trauer kann uns diesem Menschen nahebringen, dem man am besten gerecht wird, indem man seine Erkenntnisse um- und sein Werk fortsetzt. Es bleibt die Erinnerung an ein in seiner Kürze reiches Leben, in dem wissenschaftliche Sorgfalt ebenso ihren Platz hatte wie der Klang der Blockflöte oder der Duft der Zirbelkiefer. Ein Nachruf zu Clemens Arvay.
Es sind dunkle Zeiten, tiefdunkle Zeiten inmitten der globalen
Auf dieses Gedankennetz haben sich die meisten Menschen als allgemeingültigen Konsens geeinigt. Wenn es da nicht wenige vereinzelte Menschen gäbe, die mit einer diametral anderen Deutung der Krisensituation daherkommen und das sicher geglaubte Gedankengebäude zu verändern versuchen.
Zu genau diesen Personen zähle ich Clemens Arvay. Er tauchte plötzlich aus dem weitgehend homogen geknüpften Informationsnetz auf und fing an, einzelne Knoten zu lösen und die Knotenpunkte neu zu verbinden. Das Besondere dabei war, dass er sich genau der Methode des unangefochtenen Glaubensprinzips unserer modernen Gesellschaft — der Wissenschaft — bediente.
Ich selbst bin Ingenieur und komme daher aus einer Disziplin, die nur durch stringente Anwendung von Logik und Beachtung von Kausalketten überhaupt ansatzweise funktioniert. Kein Auto würde beim Anlassen auch nur einen Mucks von sich geben, kein Flugzeug nur einen Millimeter abheben, und keine Brücke würde stehen bleiben, wenn Ingenieure sich nicht knallhart an die Naturgesetze der Mechanik halten würden, die Gelehrte der Vergangenheit als wiederkehrend in der Natur erkannt haben. Mit diesem Denkmuster bin ich damals auch an die Analyse unserer Gesellschaftskrise herangegangen und war immer wieder überrascht und unbefriedigt, dass es zwar einen allgemeingültigen wissenschaftlichen Konsens über eine globale Gesundheitsbedrohung zu geben schien, die Herleitung der Kausalkette auf die zugrundeliegende Ursache jedoch nicht vollständig nachvollziehbar war.
Wer kann und will schon den Myriaden von Informationen und Studien im Detail auf den Grund gehen, um zu prüfen, ob das bereits als allgemeingültig anerkannte Paradigma wirklich auf soliden Füßen steht? Der Biologe Clemens Arvay. Er ist mir in der Verzweiflung, in der ich mich wegen der Deutung der globalen Krise befand, wie ein Leuchtturm im Sturm aufgefallen. Er hat seinen wissenschaftlichen Geist und Fleiß und seine Fähigkeit zum knallharten logischen Denken genutzt und messerscharfe Analysen medial und in Büchern für die wachsende Zahl ganzheitlich denkender Menschen aufbereitet. Es waren also durch ihn plötzlich sehr klare logische Zusammenhänge mit Tiefgang sichtbar, und die Gruppe der Menschen, die ihm folgten, konnten sich ein wesentlich besseres Bild von der Situation und den möglichen Auswegen daraus durch medizinische Maßnahmen machen.
Dabei hat er sich klug und undogmatisch verhalten und jedem Menschen immer die Freiheit gelassen, sich auf seine Erkenntnisse einzulassen oder eben nicht.
Seine Buchtitel waren in dieser kritischen Zeit eher mit einem Fragezeichen als mit einem Ausrufezeichen formuliert und positiv konnotiert. So wie eines seiner letzten Schlüsselbücher zu dem Thema: „Wir können es besser“. Darin vertritt er die Kernthese, eine gesündere Welt zu schaffen, durch den Ansatz, Medizin stärker ökologisch und nicht nur stofflich mechanistisch zu definieren.
Er fordert in dieser Hinsicht einen Umbruch und sieht den positiven Dialog, in dem wir körperlich und seelisch mit unserer Umwelt und der Natur stehen sollten, als den Schlüssel für eine nachhaltige Gesundheit des Individuums und der Gesellschaft. Er kämpfte unermüdlich, die Menschen für einen besseren Weg zu Gesundheit aufzuklären, an seinem Wissen teilhaben zu lassen, eben auch in einer Zeit, in der es sehr schwer geworden war, breitere Bevölkerungsgruppen noch medial zu erreichen.
Er wurde ob seiner alternativen Ansichten zum allgemeinen Konsens ausgesperrt aus dem medialen Betrieb der Mainstream-Meinung, in dem er sich in der Vergangenheit als respektabler Gast in Talkshows und mit wissenschaftlichen Büchern und Fachartikeln souverän bewegt hatte.
Seine Persönlichkeit und wissenschaftliche Karriere als Biologe wurde — und das muss man hier ganz deutlich sagen — auf maximal boshafte Weise über die allgemeingültigen „Wissensplattformen“ und durch sonderbare Gegenspieler in der Blogger- und Vlogger-Szene in den Dreck gezogen.
Hier zeigt sich plötzlich Clemens Arvays Verletzlichkeit. Seine Achillesferse. Er definierte seine Persönlichkeit stark über seine Karriere und Reputation und fängt an, sich zu wehren. Auf Menschen, die es wagten, ihn mit Unlogik und eben meist auch diffamierend zu konfrontieren, reagiert er konsequent. Neben seinen sonst sehr informativen Analysen über die Studienlage zur Bekämpfung der Gesundheitskrise gab es jetzt einen harten medialen Schlagabtausch vom Feinsten auf den sozialen Medienplattformen mit seinen Gegenspielern.
Er konnte die Dinge nicht so stehen lassen. Er hat sich aufgerieben, hat für sich nicht realisiert, dass er in dieser Hinsicht auf verlorenem Posten stand. Er hätte den übermächtigen Sturm vorüberziehen lassen müssen und nicht versuchen sollen, gegen ihn anzukämpfen und seine mentalen Reserven damit aufzubrauchen, die er noch für wichtigere Dinge gebraucht hätte. Er ist damals schon, wie wir heute durch seinen vermutlichen Freitod im Februar 2023 deuten können, bereits auf ein Märtyrertum zugesteuert. Er hat sich seelisch aufgebraucht. Soweit zumindest meine Analyse aus den leider nur fragmentarischen Einsichten in seine Persönlichkeit.
Dieser mediale Schlagabtausch, für den er so viel Energie aufwendete, war aber für Logiker durchaus ein Hochgenuss und fast mit derselben Spannung wie auf die wöchentlich erwartete Krimiserie herbeigesehnt, wenn er ein Reaktionsvideo auf einen Angriff seiner Person und Reputation im Internet veröffentlichte.
Diese Fähigkeit und Standhaftigkeit hat vielen seiner Follower, die sich selbst vielleicht nicht so klug und sachlich äußern und wehren konnten, ein Gefühl der Stärke und Sicherheit vermittelt. Er war für mich unangefochten einer der ganz großen Kämpfer für einen klares Denken in Zeiten großer Unsicherheit und Verwirrung. Es war aber auch deutlich zu sehen, dass dies ein riesiger Kraftakt war. Er wirkte sehr angefasst wegen der meist sehr unsachlichen und persönlichen Angriffe auf ihn. Ich kann mich an keinen Angriff auf ihn erinnern, bei dem über die Sache gefochten wurde. Es waren ausschließlich Diffamierungen persönlicher Natur. Er konnte sich schlecht abschotten.
Diese Angriffe sind direkt in seine Seele eingesickert, haben dort gewütet und begonnen, ein Zerstörungswerk anzurichten.
Ich kannte Clemens erst seit 2020, aber wenn man zurückschaut in seine Arbeit vor dieser Zeit, entdeckt man keinen knallharten Kämpfer für die Sache, sondern einen sensiblen, feinsinnigen Naturmenschen, Musiker, Gelehrten und bereits als Buchautor Prominenten, der von der Gesellschaft hätte getragen werden müssen, damit sie nachhaltig von seinem Genius profitieren kann. Allein die Titel der für sein kurzes Leben unerschöpflichen Anzahl and Büchern, die an anderer Stelle inhaltlich detaillierter besprochen werden sollten, wirken sensibel, ja fast poetisch: „Heilungscode der Natur“, „Mit den Bäumen wachsen wir in den Himmel“, und sein Bestseller, mit dem er am meisten Bekanntheit erlangt hat, zum Thema Heilung aus dem Wald: „Der Biophilia-Effekt“ (siehe Link auf ergänzenden Artikel zu dem Buch am Ende des Texts).
Ich möchte an dieser Stelle gerne noch eine persönliche Geschichte erzählen, in der ich Clemens persönlich kennen lernen durfte und auf drei große gefühlsmäßige Abenteuerreisen mit begleiten konnte. Clemens war Forscher mit einer bereits beachtlichen universitären Karriere. Er erforschte die Schnittstelle Mensch und Natur, und auf besonders gründliche Weise den Einfluss der Natur und vor allem des Waldes auf die Gesundheit des Menschen. Im Jahr 2021 suchte unsere Familie ein Schicksalsschlag heim und meine liebe Frau erhielt nach acht Jahren die erneute Diagnose eines fortgeschrittenen Brustkrebs-Rezidivs. Wir sind den Empfehlungen unseres Onkologen gefolgt, um eine Heilung voranzubringen.
Clemens hat in dieser Zeit seine Doktorarbeit vorbereitet, in der er über den Zusammenhang vom Aufenthalt in der Natur und im Wald auf die Gesundheit des Menschen forschte. Er suchte eine erste Gruppe von gesunden Frauen und Frauen mit Brustkrebsdiagnose als Probandinnen, die an einer Studie zum sogenannten Waldbaden teilnehmen sollten. Diese Teilnahme war verbunden mit zwei Blutabnahmen am Anfang und Ende des Aufenthaltes im alpinen Wald des Naturparks Zirbitzkogel in der österreichischen Nordsteiermark. Waldbaden unter dem stark nach terpenhaltigen Substanzen duftenden Harz, der dort heimischen Zirbelkiefer: Nichts Schöneres konnten sich meine erkrankte Frau und ich als Erholung und Ergänzung zu der bereits abgeschlossenen schulmedizinischen Krebsbehandlung als Weg zur Gesundwerdung vorstellen.
Die Frau des Autors beim Waldbaden unter einer alten Zirbelkiefer am Zirbitzkogel in der Steiermark, Österreich im Sommer 2021
Eine japanische Studie zum Waldbaden war wegweisend und
vielversprechend, und Clemens Arvay konnte europäische Forschungsgelder
über seine Universität in Graz sichern, um die positiven Ergebnisse der
asiatischen Studie auch in den Wäldern Europas nachzuvollziehen. So
schlimm uns das Schicksal mit der schweren Erkrankung meiner Frau
erwischt hatte, so froh war ich doch, dass wir uns durch die Teilnahme
an dieser wunderbaren Studie in der freien Natur aufhalten konnten, von
einem Menschen geleitet, den ich durch seinen scharfen Geist bereits
sehr bewunderte. Ich war neugierig, kannte Clemens ja nur aus Videos und
über seine Buchbeiträge.
Er war für mich auf gewisse Weise eine ganz besonders große „Celebrity“ unserer Zeit. Die erste Begegnung in der Hotellobby. Wie ein Waldjunge mit feinem wehendem Zopf und kurzen Hosen stand er plötzlich im Raum und grüßte die Teilnehmer ruhig. Ich hatte von ihm eher den Eindruck eines scheuen Rehs als des toughen, schnell redenden Video-Blogger, den ich kannte. Er war verletzlicher und sensibler, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Höflich, feinfühlig, aber auch auf eine gewisse Art zunächst unnahbar und zurückgezogen.
Wir haben zwei wunderbare unvergessliche Tage gemeinsam mit ihm und seinem Team aus Helfern verbracht. Zu denen gehörte auch ein Vertrauter von Clemens Arvay, ein Arzt und Vertreter der Naturmedizin, der die Einrichtung und Nutzung von Gärten in Krankenhäusern zur schnelleren Genesung der Patienten vorschlägt und praktisch umsetzt. Er war für die regelmäßige gesundheitliche Überwachung der Probandinnen und für die Blutabnahmen vor Ort verantwortlich, und Clemens Arvay hat durch die gute Zusammenstellung eines so kompetenten Teams große Sorgfalt für die Sicherheit und das Wohlbefinden seiner Probandinnen verwendet.
Clemens hat die Gruppe wunderbar begleitet mit interessanten Vorträgen, die sehr akademisch am Flipchart, aber eben unter den wunderbaren Zirbelkiefern im Freien gehalten wurden. Jede Minute der Exposition der Probandinnen in der harzdurchtränkten Waldluft wurde genutzt. Wir sollten die Zirbelkiefernzapfen sammeln und uns zusätzlich ans Kopfende unseres Bettes legen, wir sollten die Bäume anfassen, direkt dem Harz exponiert sein. Noch heute liegen die schönen Zapfen an meinem Bett daheim.
Clemens war nahe bei der Gruppe, hat fotografiert und dokumentiert, regelmäßig Messungen der Umweltfaktoren wie Temperatur, Wind und Regen vorgenommen und diese in seinen Unterlagen notiert. Der Arzt und die Helfer waren angewiesen, regelmäßig Blutdruck und Blutsättigung der Probanden zu messen. Es wurde unter Clemens‘ Leitung also hochpräzise und wissenschaftlich gearbeitet und dokumentiert.
Clemens Arvay bei Messung und Dokumentation der Umweltparameter während der Kontrollgruppe der Waldbaden-Studie im Stadtpark von Wien im Sommer 2022.
Seine Genauigkeit im Denken, die in seinen Video-Blog-Beiträgen und
Büchern zu erkennen ist, lebte er auch in jeder Pore während seiner
Forschungsarbeit. Es war eine einmalige Erfahrung, so nah dran zu sein,
wenn Menschen wie Clemens Wissen schaffen und präzise Wissenschaft
betreiben. Er hat sich zwischendurch auch abgesondert und die Natur
fotografiert oder still nachgedacht. Ich habe ihn aus der Entfernung
beobachtet und einige wunderbare Bilder von ihm in der Natur ablichten
können.
Ein kleines, spontan improvisiertes Konzert mit einigen Teilnehmerinnen brachte mich tief zum Nachdenken und zum Weinen. Es war sehr wehmütige und schöne, zugleich teils fröhliche Musik, die Clemens improvisierte. Er war immer mit verschiedenen Instrumenten ausgestattet, die er dann spontan parat hatte. In diesem Fall eine Gitarre. Die Musik war wie eine Trance, in der ich gedanklich in die schwere Erkrankung und den möglichen Tod meiner Frau eingehüllt war und getrauert habe.
Clemens konnte sich musikalisch so wunderschön und sensibel ausdrücken. Es war zauberhaft, aber hatte auch etwas von der Tiefe und Schwere in seiner Seele offenbart.
Clemens Arvay und sein Team bei der gesundheitlichen Überwachung und Dokumentation mit einer Probandin, der Frau des Autors, am Zirbitzkogel in der Steiermark, Österreich im Sommer 2021.
Die Traumreise war schon fast wieder vorbei, als ich mit Clemens, der am
Anfang privat eher unnahbar wirkte, ein langes intensives Gespräch am
letzten Abend im Restaurant des Kurhotels, in dem wir untergebracht
waren, führen konnte. Ich befragte ihn darüber, wie er sich in der Zeit
vor der Gesellschaftsreise bewegt hat, wie er in der jetzigen Situation
auch mit den starken Angriffen auf seine Person klarkommt und was ihn
privat bewegt.
Er berichtete von seinen Erfolgen als Spezialist zu biologischen Fragen in Talkshows im öffentlichen Fernsehen, die abrupt endeten, als er begann, eine andere wissenschaftliche Deutung der Dinge zu vertreten. Er litt unter dem mangelnden Diskurs, den er in der Wissenschaft bisher gewohnt war, machte auf mich zu diesem Zeitpunkt aber nicht den Eindruck, dass er daran zerbrechen könnte. Er war für mich der standhafte Clemens, wie viele von uns ihn aus seinen Vlog-Beiträgen kannten. Er sprach nur sehr am Rande über Privates, und ich habe erst nach mehreren Gesprächen und externen Quellen herausgefunden, dass er seinen kranken Sohn zuhause betreut. Darüber hat er kaum gesprochen, und der sonnige, etwas scheue und hochgeistige Mensch Clemens Arvay war der Mensch, den ich kennenlernen durfte.
Clemens Arvay, der Wissenschaftler im Wald, bei persönlichen Naturbeobachtungen am Zirbitzkogel in der Steiermark, Österreich im Sommer 2021.
Meine liebe Frau ist knapp ein Jahr nach dieser Traumreise auf den
Zirbitzkogel doch an den Folgen ihrer schweren Krebserkrankung
verstorben. Der Aufenthalt mit Clemens im Wald hat ihr letztes
Lebensjahr zauberhaft begleitet, und ich denke, auch geholfen, ihr
Leben zu verlängern. Mit Clemens bin ich in Kontakt geblieben, und kurz
nach ihrem tragischen Tod hat er mich und meinen ältesten Sohn erneut zu
einer Studiengruppe, dieses Mal mit Männern, auf den Zirbitzkogel und
zu einer Kontrollgruppe in den Stadtpark nach Wien eingeladen.
Die These, die es im Rahmen seiner Doktorarbeit zu untersuchen galt, war, den Effekt der phenolharzigen Ausdünstungen des in dieser Hinsicht sehr reichhaltigen Gewächses der Zirbelkiefer für einen heilenden Effekt bei Menschen nachzuweisen. Dieser Gesundheitseffekt sollte über verschiedene Blutmarker dann wissenschaftlich erhärtet werden. Aus diesem Grund die Kontrollgruppe im Stadtpark Wien unter ähnlichen äußeren Bedingungen, aber ohne den Einfluss der Zirbelkiefer.
Clemens Arvay motiviert die zweite Gruppe der Probanden von Männern zu Studienzwecken, regelmäßig den Duft der Zapfen der Zirbekiefer zu inhalieren. Zirbitzkogel Österreich im Sommer 2022.
Auch diese beiden wunderbaren Ausflüge ins Grüne zum Wohle der
Wissenschaft waren zauberhaft, und Clemens, durch den Tod meiner Frau
berührt, war noch offener und persönlicher als vorher. Wir waren im
Gebirge am Zirbitzkogel in einem großen Stiftkloster untergebracht, in
deren Kapelle Clemens uns zum Gedenken an meine verstorbene Frau ein
kleines Gedenkkonzert auf einer Bass-Blockflöte improvisiert hat.
Anwesend waren in der späten Nacht nur noch sein Begleiter, der
befreundete Naturarzt.
Clemens‘ Spiel auf zwei verschiedenen Flöten, eine aus Plastik, die er für seine Ausflüge ins Freie besorgt hatte, und noch wunderbarer auf der aus Holz, war verzaubernd. Ich will gerne diese stillen Momente der Trauer und Besinnung, in die uns Clemens in der kleinen Kapelle versetzt hat, als kleines Vermächtnis mit allen teilen, die um ihn trauern. Die Improvisation galt meiner Frau, und ich sehe sie im Nachgang auch als eine vorgezogene Trauer um Clemens und seine Seele, die so fein und verletzt war, was ich zu diesem Zeitpunkt in dieser Tragweite noch nicht wahrgenommen habe.
Ein ganz privater, sensibler Clemens Arvay, der ein Kraftbad und Powernap in der Sonne abseits der Probandengruppe am Zirbitzkogel nimmt. Zirbitzkogel Österreich im Sommer 2022.
Wir alle sind immer wieder vom Tod betroffen und berührt.
Und wenn uns besonders nahe Menschen oder große Menschen, die uns inspiriert und getragen haben, verlassen, können wir besonders tief in die Trauer eindringen. Der Mensch, um den wir trauern, schwingt dann in uns weiter. Und wenn es uns gelingt, durch diese Trauer die Resonanz dieser Menschen in uns und um uns am Leben zu halten, dürfen wir auch lebenslang trauern, ohne uns zu verzehren.
Meine Frau, die kein Jahr vor Clemens gegangen ist, und Clemens waren beide noch sehr jung, und mit Mitte 40 fast gleich alt. Sie schwingen in uns weiter und ermutigen uns, zu leben und das Leben in vollen Zügen bewusst zu erfahren und auszukosten. Das ist unsere Aufgabe, und mit dieser Haltung werden wir es auch schaffen, die dunklen Zeiten gut zu überstehen und immer wieder Licht in unsere Seele und die unserer Mitmenschen in unserer globalen Gesellschaftsfamilie zu tragen.
Quellen und Anmerkungen:Gedanken zum Werk von Clemens Arvay machte sich Roland Rottenfußer auch in folgendem. älteren Artikel:
Eine Einladung zu mehr Lebendigkeit und „Biophilie“.
von Roland Rottenfußer
Wir lieben, was unseren Bedürfnissen entgegenkommt und was uns glücklich macht. „Biophilie“ bedeutet Liebe zum Leben, zum Lebendigen. Der Begriff wurde von dem Psychotherapeuten Erich Fromm geprägt und bezieht sich interessanterweise zunächst auf eine Charakterorientierung. Der Autor und Biologe Clemens G. Arvay hat dieses Phänomen in seinem Buch „Der Biophilia-Effekt“ sehr anschaulich dargestellt. Er liefert eine Fülle von auch wissenschaftlich untermauerten Fakten über die positive Wirkung von Naturerleben auf unsere Gesundheit. Seine wichtigste These: „Unsere Biophilia ist eine Schöpfung der Erde, auf der wir leben. Sie verbindet uns mit unserem Heimatplaneten“. Umgekehrt wird das Schwinden der Liebe zum Lebendigen auch ökologisch zur Gefahr.
Im Juni über die Weinberge laufen nahe Balatonkeresztúr am
Die prallen Kirschen wachsen einem buchstäblich in den Mund, frei zugänglich am Wegrand. Schon deuten sich auch Pflaumen und Pfirsiche für eine künftige Ernte an, und die Bienenweiden sind bunt gesprenkelt von Klee, Kronwicken und Witwenblumen. Die Linden duften süß und brummen vom Ansturm der Hummeln auf ihre blassgelben Blüten. Grün und winzig sind noch die Weinbeeren und versprechen künftigen Saft und Rausch. Selbst den Wintertee für kältere Zeiten kann man vorsorglich in Tüten packen: Kamille, Salbei, Thymian und Johanniskraut. Von manchen Stellen sieht man in der Ferne die riesige spiegelnde Fläche des Balaton vor dem imposanten Tafelberg Badacsony.
Eine solche Landschaft rührt unwillkürlich etwas in uns Menschen an und versetzt uns in eine Hochstimmung, wenn wir bereit sind, uns dafür zu öffnen. Ihre Ausstrahlung ist gesund, einladend, glücksverheißend „Satt und ungeheuer fett“ hatte Konstantin Wecker über den nahenden Sommer geschrieben.
Auch ein Bergwald mit seiner wilden Schönheit spricht die Sinne an und vermittelt ein Wohlgefühl. Eine solche fruchtbare „Kulturlandschaft“ jedoch strahlt noch etwas anderes aus: Sicherheit, das Versprechen, dass wir uns notfalls von diesem Land nähren könnten. Vielleicht trügt diese Verheißung – wir können uns nicht alles nehmen, es gehört den Bauern –, aber das Wohlgefühl, das sich unwillkürlich einstellt, ist unbewusster Natur. Wir lieben, was unseren Bedürfnissen entgegenkommt.
Der Autor und Biologe Clemens G. Arvay hat dieses Phänomen in seinem Buch „Der Biophilia-Effekt“ sehr anschaulich dargestellt. „Die strahlende Naturromantik spiegelte meine eigene Sehnsucht nach artgerechten menschlichen Lebensräumen wider“, schreibt er dort über ein eigenes Erlebnis.
„Der Homo sapiens entwickelte sich über Jahrmillionen aus der Natur, in der Natur und mit der Natur. Klar sind wir, aus evolutionären Gesichtspunkten, innerlich mit natürlichen Lebensräumen mehr verbunden als mit städtischen, technologischen und hochmodernen.“
Offenkundig wird vor diesem Hintergrund auch, warum sich bestimmte Naturphänomene besonderer Beliebtheit erfreuen: plätschernde Bäche etwa oder spiegelnde Wasseroberflächen, die den Suchenden in archaischen Zeiten schon von weitem signalisierten, dass sie hier überleben konnten. Fruchttragende Pflanzen im Allgemeinen: Obstbäume, Beerensträucher, Pilze und Kräuter, auch Blütenpflanzen, obwohl diese meist nicht unmittelbar essbar sind. Wo Bestäubung stattfindet, wächst später oft eine essbare Frucht – und manchmal fällt auch süßer Honig ab.
Dieser Wohlfühleffekt hat gesundheitlich erhebliche Vorteile, wie der Autor auch anhand von Beispielen aus der Gehirnforschung belegt:
„Das Reptiliengehirn und das limbische System sind also maßgeblich ausschlaggebend dafür, ob wir uns an einem bestimmten Ort beziehungsweise in einer bestimmten Situation entspannen können oder ob wir uns im Alarm- und Fluchtmodus befinden. Sich in der Natur aufzuhalten, führt im Gegensatz zum hektischen Alltag oft in den Entspannungsmodus.“
Es gibt sogar einen Namen für unsere Vorliebe für besonders lebensfreundliche Landschaften: den „Savannen-Effekt“. Nicht in dunklen Wäldern fühlen wir uns meist am wohlsten, weil diese wenig Essbares bereithalten und weil aus unübersichtlichem Gestrüpp leicht jederzeit Angreifer hervorbrechen könnten. In aufgelockerten Graslandschaften, die teilweise von Bäumen und Sträuchern bewachsen sind, fühlen wir uns dagegen sicher, weil wir den „Feind“ schon in der Ferne kommen sehen. Und weil diese Landschaften ideale Bedingungen für mannigfaches Pflanzenwachstum bieten. Parklandschaften sind unter anderem deshalb beliebt, weil sie menschengemachte „Savannen“ darstellen. Auch die geschilderte inspirierende Landschaft am Plattensee folgt diesem Muster.
„Unsere Biophilia ist eine Schöpfung der Erde, auf der wir leben. Sie verbindet uns mit unserem Heimatplaneten.“
So Arvay.„Biophilia“ (oder Biophilie) bedeutet Liebe zum Leben, zum Lebendigen. Der Begriff wurde von dem Psychotherapeuten und Philosophen Erich Fromm geprägt und bezieht sich interessanterweise zunächst auf eine Charakterorientierung, besitzt sogar eine ethische Komponente.
„Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen“ heißt eines der wesentlichen Bücher Fromms zum Thema. Dort leitet er Biophilie zunächst von deren Gegenteil ab: der Nekrophilie (Liebe zum Tod oder zum Toten). Den Begriff „Biophilia-Hypothese“ verwendete der Evolutionsbiologe Edward O. Wilson 1993 (also erst nach Fromms Tod). Er sprach in seinem Buch von dem „menschlichen Bedürfnis, sich mit anderen Lebewesen zu verbinden“ und setzte sich für Artenvielfalt ein. Ob Wilson die Bücher Fromms zum Thema gekannt hat, bleibt unklar.
Keine Zweifel kann es mehr geben an der gesundheitlich wohltuenden Wirkung der Natur auf den Menschen. „Waldspaziergänge sind gesund“ – dies ist weitaus mehr als ein Klischee, eine von medizinischen Laien eher „gefühlte“ Erkenntnis. Wie Clemens G. Arvay in seinem Buch ausführlich darstellt, kommunizieren Pflanzen über chemische Substanzen miteinander. Sie senden Moleküle aus, etwa um andere Pflanzen vor Schädlingen zu warnen.
Sogar die Frage, welcher Fressfeind sich nähert, kann über diese „Pflanzenvokabeln“ präzise beantwortet werden. Bäume bilden aufgrund solcher Alarmsignale seitens ihrer Artgenossen vorsorglich Abwehrstoffe gegen die Schädlinge, ohne selbst mit ihnen in Berührung gekommen zu sein. Von Menschen werden diese Moleküle meist als angenehme Düfte wahrgenommen.
Etwa 2000 solcher „Vokabeln“ hat die Wissenschaft mittlerweile identifiziert. Die meisten von ihnen gehören zur Gruppe der Terpene. Diese schützen Bäume vor Sonneneinstrahlung, können erwünschte Insekten und Tiere anlocken, unerwünschte abschrecken oder gar töten. Wichtig ist nun die positive Wirkung der Terpene auf unsere Gesundheit. „Einige unter den Terpenen interagieren auf höchst gesundheitsfördernde Weise mit unserem Immunsystem. (…) Waldluft ist wie ein Heiltrunk zum Einatmen“, schreibt Arvay. Traditionell nennen die Japaner das wohltuende Einatmen von Waldluft „Shinrin-yoku“ (Waldbaden).
Heute ist Shinrin-yoku eine vom japanischen Gesundheitssystem sorgfältig erforschte und geförderte ergänzende Behandlungsmethode bei vielen Krankheiten. Arvay findet das nur logisch: „Pflanzen reagieren auf Terpene häufig mit einer Steigerung ihrer Abwehrkräfte. Unser Immunsystem reagiert ebenfalls mit einer Stärkung der Abwehrkräfte.“ Terpene wirken auch auf unser Hormonsystem und reduzieren Stress – ein Effekt, den man ohne weiteres aus eigener Erfahrung nachvollziehen kann.
Selbst der Krebsvorsorge können Aufenthalte in der Natur dienlich sein. Clemens G. Arvay unter Berufung auf Forschungsergebnisse der Nippon Medical School in Tokyo: „Wenn Sie zwei Tage hintereinander in einem Waldgebiet verbringen, können Sie die Anzahl Ihrer natürlichen Killerzellen um mehr als fünfzig Prozent steigern.“ Freilich ist dieser Effekt im Inneren eines baumreichen Waldes am stärksten ausgeprägt. In „Savannen“-Landschaften und Anbaugebieten vieler Kulturpflanzen tritt er nur reduziert auf. Diese Landschaftsformen wirken aber auf andere Weise heilsam: durch ihre Freude spendende Fruchtbarkeit.
Zu vergleichbaren Ergebnissen gelangte auch das Forscherehepaar Rachel und Stephen Kaplan aus Michigan, USA. Beide betonen besonders den erholsamen Effekt der Natur-Faszination.
Im Alltag sind wir oft gezwungen zu „gerichteter Aufmerksamkeit“, der unter Leistungsdruck erbrachten Fokussierung auf ein Sachthema, auf Texte oder Zahlen. Diese Form der verengten Aufmerksamkeit ermüdet den Geist und schmälert unsere natürliche Daseinsfreude.
Natur-Faszination dagegen ermöglicht einen weiten, sanften und schweifenden Blick, gelenkt nicht durch Willenskraft, sondern durch die Naturphänomene selbst, die uns abwechselnd in ihren Bann ziehen.
Am Staffelsee in Südbayern gehe ich zum Beispiel mit Vorliebe in Ufernähe spazieren. Dort kann der Blick ungezwungen zwischen dem Fern- und dem Nahbereich wechseln, und überall findet er Schönheit: Moorlandschaft, See und Alpenpanorama bilden den Hintergrund, Trollblume, Schwertlilie oder Schwalbenwurz-Enzian den Vordergrund, und gelegentlich sieht man sogar ein Reh bei einem Wäldchen stehen – wie erstarrt zunächst, bevor es das Weite sucht.
Selbst minimale Natureindrücke – etwa ein Baum vor einem Fenster – sind offensichtlich heilsam. Das Ehepaar Kaplan hat 1200 Büroangestellte befragt, von denen die Hälfte aus ihrem Fenster Ausblick auf Grünflächen hatten. Die Kontrollgruppe hatte keinen solchen Ausblick. Die „Natur-Gruppe“ gab deutlich seltener an, unter Konzentrationsstörungen zu leiden und über ihre Arbeit frustriert zu sein. Sie zeigte signifikant mehr Freude an ihrer Arbeit.
Auch Kinder mit sogenannter Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHS) profitieren ohne Zweifel von Naturerfahrungen. Der Sachbuchautor Richard Louv spricht in diesem Zusammenhang vom „Ritalin der Natur“ und plädiert – statt Ruhigstellung durch Medikamente – dafür, die Kinder in den Wald zu schicken, damit sie sich austoben können.
„Natur“ meint natürlich echte Landschaften, Pflanzen und Tiere, nicht die Substrate auf flimmernden Bildschirmen der heimischen Fernseher, Computer, Tablets und Smartphones.
Was uns gesund macht, ist nicht downloadbar.
Man muss fühlen, wie die Erde fett zwischen unseren Fingern zerbröselt, wie ein eiskalter Bergbach unsere Füße zuerst wie Nadeln sticht, um sie hinterher mit einem warmen, belebenden Strömen des Blutes zu belohnen. Man muss das pilzbewachsene, bemooste Totholz riechen oder die wunderbaren weißen Dolden der Holunderblüte im Frühsommer.
Es ist bekannt, dass Naturfaszination sogenannte Flow-Erlebnisse auslösen kann. Der Mensch macht die beglückende Erfahrung, vollkommen in einer Betrachtung oder einer Tätigkeit aufzugehen – zum Beispiel in Gartenarbeit. „Die Erfahrung der Natur vermag unser Gehirn in einen anderen Modus zu schalten, in dem quälende Gedanken verschwinden, Glücksgefühle auftauchen und Probleme in den Hintergrund treten.“ (Arvay)
Man wundert sich nach diesen Betrachtungen nicht mehr, warum ein Phänomen wie die Winterdepression verbreitet ist. Es fehlt ja alles Grüne, Bunte und Sprießende, auch fast jeder Geruch. (Freilich sind auch dann Winterspaziergänge besser als die völlige Abschottung von der Natur.) Man wundert sich nicht mehr über eine Art Großstadtdepression, auf den viele mit kompensierendem Konsum, mit Drogen und stressbedingten Krankheiten reagieren.
Es ist eine Tragödie, dass sich das Landproletariat mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert in den Stein- und Metalllandschaften der Städte verdingen musste, die ihm abstoßend hässlich vorgekommen sein mussten – entwurzelt und abgeschnitten von jeder Freundschaftspflege mit Pflanze und Tier. Es ist traurig, dass sich viele heute an eine fast pflanzenlose Welt gewöhnt haben – auch an eine tierlose, sieht man von Dackeln und Hauskatzen ab. Noch schlimmer, dass nicht wenige Menschen gar nicht mehr das Bedürfnis nach ausgleichender Betätigung im Park, am Stadtrand oder durch Urlaub in Waldgebieten haben.
Entsprechend gering ausgeprägt ist oft auch das ökologische Bewusstsein. Man kennt gar nicht mehr, was man eigentlich schützen sollte. Engagement bezieht sich häufig eher auf einen abstrahierten „Umwelt“-Begriff, ohne dass wirkliche Liebe zu einem konkret erlebten Eichhörnchen, einem Kirschbaum oder Weidenröschen dahintersteht. Diese Liebe nämlich wäre es, die dem Umweltengagement Nachdruck und eine Seele verleihen würde.
Man wirkt nicht mehr wissentlich an der Zerstörung von etwas Befreundetem und Liebgewonnenem mit. Auch der Fleischkonsum beruht ja auf der Vernichtung von Leben, das dem Konsumenten nicht vertraut ist, dass er als fremd, von sich abgespalten und vermeintlich seelenlos erlebt.
Dichtung ist in puncto Naturbezug oft weiter fortgeschritten als Technik, denn sie versucht in den „Weltinnenraum“ (Rilke) empathisch einzudringen. Romantische Dichter haben den Wald als kräftigenden Seelenraum gepriesen, auch als Einladung zum Rückzug aus einer als unaufrichtig und zerstreuend erlebten „Außenwelt“. So schreibt Joseph von Eichendorff in seinem auch vertonten Gedicht „O Täler weit, o Höhen“ über den Wald: „Du meiner Lust und Wehen/ Andächt’ger Aufenthalt!/ Da draußen, stets betrogen,/ Saust die geschäft’ge Welt,/ Schlag noch einmal den Bogen/ Um mich, du grünes Zelt!“
Und auch Ludwig Tieck preist die Naturidylle: „Waldeinsamkeit/ Mich wieder freut,/ Mir geschieht kein Leid,/ Hier wohnt kein Neid/ Von neuem mich freut/ Waldeinsamkeit.“ Naiv ist das mitnichten, denn der Rückzug aus einer Welt, die von den sterilen Steinwüsten der Städte, von Straßenlärm, computerisierten Büros, und uns beständig „anschreienden“ Konsumangeboten beherrscht wird, tut nicht nur infolge chemischer Prozesse gut.
Heilsam an Naturräumen ist auch, dass wir in ihnen von den Erwartungshaltungen der Menschen, etwa unserer Vorgesetzten, befreit sind, ebenso von werbeinduzierten Schönheitsidealen, die uns terrorisieren. Clemens G. Arvay schreibt dazu anschaulich: „In der Natur, in der Wildnis, ist jeder von uns ein Lebewesen unter unzähligen Lebensformen. Wir sind umgeben von Pflanzen und Tieren, Pilzen und Mikroorganismen, die allesamt eines gemeinsam haben: Sie verurteilen uns nicht und stellen keine Ansprüche an uns, wie wir zu sein oder nicht zu sein haben. (…) In der Natur können wir sein, wie wir sind.“
Ich spüre bei längerem Schlendern auf Waldwegen, an Bächen, Schluchtenabhängen und über natürliche Blumenwiesen – vor allem wenn ich langsam und nicht leistungsorientiert gehe – schon nach kurzer Zeit ein Gefühl der Erleichterung. Dies aber macht mir deutlich, dass mich etwas an der Menschenwelt sonst unmerklich belastet hat – vielleicht ja die bohrenden Blicke urteilender und wettbewerbsorientierter Personen, die zu fragen scheinen: „Bist du mir gewachsen? Zeig doch mal, was du drauf hast!“
Natur ist jedoch nicht nur ein Ort, an dem wir von unserem Schicksal gleichsam eine Auszeit nehmen können. Wir lernen eine Menge von und in ihr. Was in einem bekannten Weihnachtslied über den Tannenbaum gesagt wird, trifft auf Pflanzen und Tiere generell zu: „Dein Kleid will mich was lehren“. Damit ist keine aufdringlich pädagogische Absicht von Rinde und Regenwurm gemeint. Vielmehr „zieht“ das menschliche Bewusstsein aus den Naturphänomenen, die es beobachtet, bewusst oder auch unwillkürlich gewisse Erkenntnisse.
So Clemens G. Arvay über das Austreiben einer Weide nach dem Kahlschlag: „Der Baum trotzt seinem Schicksal, findet selbst nach einem radikalen Einschnitt in sein Leben wieder zu neuen Kräften und versucht einen Neustart. Er wächst über seine Verletzungen hinaus.“ Dies könnte einen Menschen inspirieren, der gerade in einer ähnlichen Situation steckt. Die Weide flüstert ihm gleichsam zu: „Du bist nicht alleine, ich habe es auch geschafft. Du kannst wieder aufstehen.“
Die Natur als Spiegel menschlicher Seelenprozesse – genau das macht sie so „poesiefähig“.
Auch Menschen, die keine Dichter sind, erfassen dies intuitiv. Denken Sie an eine Pflanze, die Sie besonders lieben und überlegen Sie, was diese Wahl über Sie selbst verrät.
Ich habe Krokusse über Jahrzehnte besonders gemocht und erst spät eine Theorie darüber entwickelt, warum das so ist. Vielleicht weil Krokusse ein bisschen sind wie ich. Wer zu früh herauskommt – mit Ideen, die bei den Mitmenschen noch kaum auf Resonanz stoßen – muss frieren. Er führt das relativ harte Leben eines „Pioniers“. Der Krokus aber entwickelt besonders viel Eigenwärme, was den Schnee rings um ihn schneller schmelzen lässt. Mehr als dies etwa bei Sommerpflanzen der Fall ist. Auch wer sozial in einer kalten Umwelt zurechtkommen muss, schafft dies nur durch Eigenwärme. Denken Sie einmal über die „Botschaft“ Ihrer Lieblingspflanzen nach.
Zu beachten ist außerdem der positive Effekt der Natur auf die menschliche Seele durch pure Schönheit. Gern wird dies in Büchern mit wissenschaftlichem Anspruch übersehen, denn Schönheit hat mit Harmonie zu tun, mit Proportionen, mit der Anordnung von Farben und Formen zueinander. Dies aber sind Kriterien, die wir meist auf von Menschen geschaffene Kunstwerke anwenden.
Der Dokumentarfilm-Autor Rüdiger Sünner sieht in der Natur einen „ungeheuren Überschuss von Schönheit und Spiel“ am Werk. Wobei mit „Spiel“ das Mehr-als-Notwendige gemeint ist. Lebensformen besitzen Eigenschaften, die nicht unmittelbar dem Überleben dienen. Gewiss erfüllen das Federkleid eines Pfaus oder die Farbe und der Duft einer Blume auch einen „Zweck“: Männliche Vögel wollen mit ihrer reichen Farbenpalette Weibchen anlocken. Blumen sind darauf bedacht, aufzufallen und Insekten zur Bestäubung zu verführen. Blüten sind oft so „konstruiert“, dass der Blütenstaub leichter am Fell der Bienen hängenbleiben kann – man betrachte dazu etwa den „Klappmechanismus“ des Wiesensalbei. Trotzdem erklärt dies nicht vollständig die ungeheure Farben- und Formenvielfalt in der Natur. Zum Überleben hätten auch ein paar unscheinbare Spezies genügt.
Schönheit in der Natur berührt die Seele in ähnlicher Weise wie es ein vollkommenes Kunstwerk tut. Das Aussehen von Blumen scheint exakt auf das menschliche Empfindungsvermögen zugeschnitten. Und damit meine ich nicht die Tatsache, dass Blumen in einigen Fällen essbar sind. Schon das Betrachten kann beglücken und inspirieren. Das Vorhandensein solch bezaubernder Phänomene scheint geradezu auf ein Potenzial von Güte, auf eine wohlmeinende Präsenz hinzuweisen – trotz aller Grausamkeit, die es in der Wildnis ja auch gibt.
Schönheit vermittelt eine Ahnung von „Schöpfung“, was die Existenz eines Schöpfers nahe legt.
Nicht jeder wird einer spirituellen Deutung folgen wollen, aber auch die Schönheit „aus sich heraus“ wäre bewundernswert – dann als ein großes, unentschlüsseltes Geheimnis.
Wir sind nicht ausschließlich die Beute unseres Überlebensinstinkts, der uns zum Beispiel zum reifen, gelbroten Pfirsich greifen lässt. Der Mensch ist in der Lage, das Nützliche – etwa eine Kartoffel – als reizlos, das Unnütze – etwa den giftigen Roten Fingerhut – dagegen als ansprechend zu empfinden. Selbst eingefleischte Naturmuffel werden sich schwertun, den Gang durch einen Botanischen Garten im Mai bei schönem Wetter nicht als angenehmer zu empfinden als den Besuch eines leerstehenden, verwahrlosten Fabrikgeländes.
Es bleibt unsere Aufgabe, dieses Geschenk unseres Planeten – teilweise durchaus bereichert durch menschliche Gartenkunst und Zuchterfolge – anzunehmen, es zu pflegen und zu bewahren. Gegenüber vollkommen empfindungslosen Betrachtern wäre all diese Schönheit wahrlich verschwendet. Die Fähigkeit, wahrzunehmen, zu würdigen und zu genießen, ist nicht jedem gleichermaßen gegeben; sie lässt sich jedoch auch üben. Unserer Gesundheit an Leib und Seele können wir kaum einen größeren Dienst erweisen als durch vertieften Kontakt mit der Natur. Daher hat Konstantin Wecker sehr recht, wenn er singt: „Uns hat die liebe Erde doch so viel mitgegeben. Dass diese Welt nie ende – nur dafür lasst uns leben!“
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Roland Rottenfußer, Jahrgang 1963, war nach dem Germanistikstudium als Buchlektor und Journalist für verschiedene Verlage tätig. Von 2001 bis 2005 war er Redakteur beim spirituellen Magazin connection, später für den Zeitpunkt. Er arbeitete als Lektor, Buch-Werbetexter und Autorenscout für den Goldmann Verlag. Seit 2006 ist er Chefredakteur von Hinter den Schlagzeilen und seit 2020 Chefredakteur vom Rubikon. |
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Beide Artikel erschienen bei :Rubikon-News
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