Thema:
Türkeiwahlen
Experte über Erdogan
Er könnte Totengräber der Türkei werden
von O.Fischer - Die Türkei bekommt ein Präsidialsystem, Erdogan ist an seinem Ziel. Was das für Europa und die Türkei bedeutet, sagt Experte Hans-Lukas Kieser.
Erst sah es nach einem klaren Ja aus für die Verfassungsreform, dann schmolz der Vorsprung: Auslandtürken in Berlin verfolgen die Auszählung. (16. April 2017)
Hans-Lukas Kieser, war das Resultat – der Sieg Erdogans mit einer sehr geringen Marge – so zu erwarten?
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Klar war die Offenheit des Resultats, es bestand mehr oder weniger eine Pattsituation. Genauso klar war, dass der Möchtegern-Alleinherrscher einen Abstimmungssieg um jeden Preis erstrebte, das heisst auch mit Mitteln weit jenseits demokratischer Standards, und möglicherweise mit Betrug.
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Die Polarisierung der Türkei liegt so offener zu Tage als bei einem deutlichen Sieg. Inwiefern die Opposition den nominellen Sieg anerkennt, ist noch nicht klar. Da liegt viel Konfliktstoff. Auch ein knapper Sieg ermöglicht indes, repressive Macht weiter zu konzentrieren, die in diesem Fall ja noch nötiger ist. Anzeichen von Ausgleich, Kompromiss und Versöhnlichkeit gab es bei Erdogan bisher keine, wenn sein Machtanspruch nicht anerkannt wurde. Allerdings ist Repression keine Garantie für Stabilität.
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Man kann es so oder anders nennen: Die personenzentrierte Machtkonzentration hat jedenfalls einen Sprung vorwärts gemacht und damit die Entfernung von Rechtsstaat und Demokratie. Wir haben es mit einer plebiszitären Autokratie zu tun, die zwar wählen und abstimmen lässt, aber gleichzeitig all jene verfolgt, einsperrt und ökonomisch vernichtet, die sie unter fadenscheinigen Vorwänden als Verschwörer und Terroristen anprangert. Die Türkei war nie eine ausgewachsene Demokratie. Das Tempo ist allerdings atemberaubend, mit dem Erdogan die hoffnungsvollen Ansätze zu demokratischem Pluralismus, auch in der AKP selbst, in wenigen Jahren zerstört hat. Ein grosser Teil des Stimmvolks hat dies erkannt. Erdogan hat die Abstimmung in den Metropolen verloren. Er ist damit noch mehr auf religiöse und nationalistische Kreise in den Provinzen und neu eingebürgerte Syrer angewiesen.
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Auch wenn dies wohl primär ein populistischer Trick war, um mehr Stimmen zu ergattern, steht er unter Zugzwang, ein entsprechendes Referendum durchzuführen.
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Die EU käme zweifellos spätestens dann nicht darum herum, Farbe zu bekennen und ein System, das Gründungsgrundsätze der europäischen Einigung ohrfeigt, von der Schwelle zu weisen.
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Das Flüchtlingsabkommen wird seit je überwertet, es lag von Anfang an mindestens so sehr im Interesse Ankaras wie Europas. Die Fluchtroute läuft mittlerweile primär über Nordafrika. Szenarien wie 2015 sind im Ägäisraum kaum zu erwarten. Grosse Teile Nordsyriens sind mittlerweile vom IS befreit.
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Sicher. Flucht und Auswanderung haben bereits jetzt beträchtliche Dimensionen angenommen. Nicht nur explizit Erdogan-kritische, sondern zum Beispiel viele Akademiker, die das repressive Klima massiv in ihrer Arbeit behindert, suchen Auswege.
- Die Nato ist, so die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte, primär keine Werkgemeinschaft, sondern folgt militärstrategischer Logik. Daher erwarte ich von ihr vorderhand nicht mehr als verbale Beschwichtigung.
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Er ist zwar ein recht gewiefter Machtpolitiker. Aber er ist sunnitisch-islamistisch orientiert und hegt neo-osmanische Träume. Vor allem weiss er, entsprechende Saiten bei seiner Anhängerschaft rhetorisch zu bespielen. Er könnte zum Totengräber nicht nur – was jetzt geschieht – der bis anhin noch unterschwellig kemalistischen Republik, sondern der Türkei insgesamt, wie wir sie seit 1923 kennen, werden.
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Wirtschaft- und Finanzwelten reagieren oft kurzfristig, opportunistisch. So kommt es, dass autoritäre Wendungen nicht selten «belohnt» werden. Langfristig ist der Boden morsch. Mit schweren Krisen muss gerechnet werden. Eine entscheidende Frage ist, inwiefern der Mann an der Spitze vergleichsweise rationalen Beratern pragmatisch Raum lässt, zumal es um den eigenen Machterhalt geht.
Mit freundlicher Genehmigung von 20min.ch
Kommentare
Esprite
Schade - Überlässt das Land ihrem Schicksal, sie haben gewählt und wollen es nicht anders. Schade für die Türkei.
Klartext
Diktator - Toll, Europa hat einen neuen Diktator. Es fehlen nur noch Stiefel und braune Uniform. Hoffentlich wird es Trump am Schluss nicht wieder gerade biegen müssen. Wenigstens wissen wir, dass die USA sei Neustem nicht nur zuschaut.
Worm77
Schengen-Visum - Erdowahn wollte ja auch PFZ für die Türken. Hmm, jetzt und vor allem wenn die Todesstrafe wieder eingeführt wird, sollte es noch viel schwerer werden, ein Schengen-Visum zu erhalten.
Pack Man
@Worm77 - Nö,nicht schwierig:UNMÖGLICH!
Thomas B.
Exil vs. Domestic - The Exil Türken lebend in Europa inklusive Schweiz (exkl. Kurden) sollten sich schämen und subito nach Hause fahren. Es waren Sie die Erdogan zur Mehrheit verholfen haben und die Türken in der Türkei müssen nun alles ausbaden. Es ist traurig. Zeit die Doppelbürgerschaft zu beenden.
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